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Liebe Deinen Nächsten

Roman

 

Erstdruck: Erich Maria Remarque. »Flotsam«. Tr.: Denver Lindley. Collier’s (Springfield, OH) 104 (1939), 08.07. – 23.09.1939.

Erstausgabe. Erich Maria Remarque. Flotsam. Tr.: Denver Lindley. Boston: Little, Brown, 1941.

Deutschsprachige Erstausgabe: Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. Stockholm: Bermann-Fischer, 1941.

Aktuelle Ausgabe: Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1575).

 

 


Inhaltszusammenfassung

Der aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchtete jüdische Student Ludwig Kern wird 1935 in Wien während einer Hotelrazzia verhaftet. Während er auf seine Abschiebung wartet, lernt er Josef Steiner kennen, der in Deutschland aus politischen Gründen verhaftet worden war und aus einem Konzentrationslager nach Österreich hatte fliehen können. An der Grenze zur Tschechoslowakei trennen sich Kern und Steiner: Steiner kehrt nach Wien zurück, um im Prater illegal bei einem Schausteller zu arbeiten, Kern geht nach Prag, um nach seinem Vater zu suchen.
In Prag lernt Kern die ebenfalls aus Deutschland geflüchtete Jüdin Ruth Holland kennen, in die er sich verliebt. Ruth reist nach Wien weiter, weil sie dort arbeiten kann, Kern folgt ihr illegal, nachdem er seinen Vater gefunden hat.
In Wien treffen Kern, Ruth und Steiner wieder zusammen. Kern wird verhaftet und abgeschoben, kehrt aber nach Wien zurück, um Ruth, die inzwischen in die Schweiz weitergereist ist, zu folgen. Auch für Steiner wird die Situation in Wien zu gefährlich, er flüchtet über die Schweiz nach Paris.
In Zürich trifft Kern Ruth, ihre Bemühungen um eine Aufenthaltserlaubnis bleiben erfolglos; Kern wird erneut verhaftet und nach Frankreich abgeschoben. In Genf trifft er sich mit Ruth, beide gehen gemeinsam nach Paris, da sie dort hoffen, Arbeit zu finden.
In Paris kreuzen sich die Wege von Ruth, Kern und Steiner sowie zahlreicher anderer Emigranten erneut.
Steiner erhält einen Brief von seiner Frau, die er in Deutschland zurücklassen musste, und erfährt, dass sie in den nächsten Tagen sterben wird. Obwohl er sich bewusst ist, in Deutschland sofort verhaftet zu werden, bricht Steiner unverzüglich auf, um seine Frau ein letztes Mal zu sehen. In seiner Heimatstadt angekommen, wird Steiner von seinem ehemaligen Peiniger Steinbrenner verhaftet, erreicht jedoch, daß er seine Frau in ihren letzten Lebenstagen täglich besuchen darf. Nach ihrem Tod stürzt sich Steiner aus dem Fenster des Krankenhauses und reißt Steinbrenner mit in den Tod.
Ruth und Kern haben durch die Erbschaft eines anderen jüdischen Emigranten in Paris Pässe und Fahrkarten nach Mexiko erhalten. Auf den Champs-Elysées nehmen sie Abschied von Europa.
In diese drei Flüchtlingsbiographien ist eine Vielzahl von Beschreibungen von Emigrantenschicksalen integriert, von in der Regel erfolglosen Versuchen, Aufenthaltsgenehmigungen, gültige Pässe, Affidavits oder Durchreisegenehmigungen zu erhalten und anderen bürokratischen Schikanen. Die Protagonisten erfahren Hilfsbereitschaft und Denunziation, Humanität und Verfolgung. Liebe Deinen Nächsten bietet so ein Panoptikum der Situation von Emigranten in der Tschechoslowakei, Österreich, der Schweiz und Frankreich von Mitte der 30er Jahre bis zum Kriegsausbruch 1939.

 

Auszug aus Liebe Deinen Nächsten

 

Kern unterschrieb seine zweite Ausweisung aus Österreich. Sie war lebenslänglich. Er fühlte diesesmal nichts mehr dabei. Er dachte nur daran, daß er wahrscheinlich am nächsten Vormittag wieder im Prater sein würde.

»Haben Sie in Wien noch irgendwelche Sachen mitzunehmen fragte der Beamte.

»Nein, nichts.«

»Sie wissen, daß Sie mindestens drei Monate Gefängnis riskieren, wenn Sie wieder nach Österreich kommen

»Ja.«

Der Beamte sah Kern eine Weile an. Dann griff er in die Tasche und schob ihm einen Fünfschillingschein zu. »Hier, trinken Sie eins dafür. Ich kann die Gesetze auch nicht ändern. Nehmen Sie Gumpoldskirchner. Der ist dieses Jahr am besten. Und nun los

»Danke sagte Kern überrascht. Es war das erstemal, daß er auf der Polizei etwas geschenkt bekam. »Danke vielmals! Ich kann das Geld gut gebrauchen

»Schon gut, schon gut! Machen Sie jetzt, daß Sie rauskommen! Ihr Begleitsmann wartet schon im Vorzimmer

Kern steckte das Geld ein. Er konnte damit nicht nur zwei Viertel Gumpoldskirchner bezahlen, sondern auch mit der Straßenbahn nach Wien zurückfahren. Das war weniger gefährlich, und er behielt außerdem noch zwei Schillinge übrig für unvorhergesehene Fälle.

Sie fuhren denselben Weg hinaus wie das erstemal mit Steiner. Kern hatte das Gefühl, daß es zehn Jahre her war seitdem.

Von der Endstation aus mußten sie noch ein Stück gehen. Nach einiger Zeit kamen sie an einer Heurigenkneipe vorbei. Ein paar Tische und Stühle standen draußen im Vorgarten. Kern erinnerte sich an den Rat des Beamten. »Wollen wir ein Glas trinken fragte er den Begleitsmann.

»Was?«

»Gumpoldskirchner. Der ist am besten dieses Jahr

»Können wir machen! Es ist sowieso noch zu hell für den Zoll

Sie setzten sich in den Vorgarten und tranken den herben, klaren Gumpoldskirchner. Es war sehr still und friedlich rundumher. Der Himmel war klar und hoch und apfelgrün. Ein Flugzeug summte wie ein ferner Falke in der Richtung nach Deutschland. Der Wirt brachte ein Windlicht und stellte es auf den Tisch. Es war Kerns erster Abend im Freien. Er hatte seit zwei Monaten keinen offenen Himmel und kein offenes Land mehr gesehen. Es schien ihm, als ob er zum erstenmale wieder atmete. Er saß still und genoß das bißchen Frieden, das er jetzt noch hatte. In ein, zwei Stunden würde die Sorge und die Hetze wieder losgehen.

»Es ist wirklich zum Kotzen knurrte der Beamte plötzlich.

Kern sah auf. »Das finde ich auch

»Ich meine das anders

»Kann ich mir denken

»Ich meine mit euch Emigranten«, erklärte der Beamte mürrisch. »Ihr bringt einem ja direkt die Berufsehre ins Wanken! Nichts als Emigranten hat man mehr zu eskortieren! Jeden Tag dasselbe! Immer von Wien zur Grenze. Was ist das schon für ein Leben! Nie mehr ein ehrlicher, schöner Handschellentransport!«

»Vielleicht werden Sie uns in ein, zwei Jahren auch in Handschellen zur Grenze bringen«, erwiderte Kern troc­ken.

»Das ist doch kein Ersatz Der Beamte sah ihn ziemlich verächtlich an. »Ihr seid doch nichts, im polizeilichen Sinne! Ich habe den vierfachen Raubmörder Müller II zu eskortieren gehabt, Revolver schußbereit – und dann vor zwei Jahren den Frauenschlächter Bergmann und später den Aufschlitzer Brust, – garnicht zu reden von dem Leichenschänder Teddy Blümel! Ja, das waren noch Zeiten! Aber heute, ihr, – mit euch krepiert man ja vor Langeweile Er seufzte und trank sein Glas aus. »Immerhin, – Sie verstehen wenigstens etwas von Wein. Wollen noch ein Viertel trinken! Diesmal zahle ich

»Gut.«

Sie tranken einträchtig das zweite Viertel. Dann brachen sie auf. Es war inzwischen dunkel geworden. Fledermäuse und Nachtschmetterlinge huschten über den Weg.

Das Zollhaus war hell erleuchtet. Die alten Beamten waren noch da. Der Begleitsmann lieferte Kern ab. »Setzen Sie sich solange rein«, sagte einer der Beamten. »Es ist noch zu früh

»Ich weiß«, erwiderte Kern.

»So, Sie wissen das schon

»Natürlich. Die Grenzen sind ja unsere Heimat (Kapitel XI)

 

Kontext / Analyse zu Liebe Deinen Nächsten

Erich Maria Remarque begann die Arbeit an dem Text im Frühjahr 1938 auf der Basis der authentischen Geschichte Kerns, den er in Porto Ronco/Schweiz getroffen hatte. Die Geschichte Steiners ist fiktiv. Das Thema des Romans spiegelt sich im Motto des Textes: »Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzeln zu leben« – die Frage der Wahrung menschlicher Würde in einer Zeit, in der der Besitz gültiger Papiere über den Wert eines Menschen und womöglich sein Überleben entscheidet. Über diesen allgemein menschlichen Aspekt hinaus verband Remarque mit seinem Text eine Anklage sowohl der nationalsozialistischen Verfolgung (darin eingeschlossen die frühe Erwähnung von Konzentrationslagern) als auch der schikanösen Behandlung von deutschen Emigranten in den vier beschriebenen Aufnahmeländern. Dieser aktuelle Bezug des Textes ging jedoch aufgrund der raschen politischen Entwicklung verloren – 1938 der »Anschluss« Österreichs, 1939 Kriegsausbruch und bis 1941 der deutsche Sieg über Frankreich und der Kriegseintritt der USA.
Der Roman erschien erstmals 1939 unter dem Titel Flotsam (Strandgut) in dem amerikanischen Magazin Collier’s, auf der Basis dieser Veröffentlichung erfolgte die Verfilmung unter dem Titel So Ends Out Night. Erst 1941, kurz vor Kriegseintritt der USA und nach der Premiere der Verfilmung erschien die erste Buchausgabe des vom Autor stark überarbeiteten Textes in den USA; ebenfalls 1941 die deutschsprachige Erstausgabe unter dem neuen Titel Liebe Deinen Nächsten im Exilverlag Bermann-Fischer in Stockholm. Erst 1953 wurde der Roman in der Bundesrepublik Deutschland publiziert.
In der Rezeption des Romans spiegelt sich der Verlust des aktuellen Gehalts des Textes: Die amerikanische Kritik legte den Schwerpunkt auf den allgemein menschlichen Aspekt, der Roman erschien als Dokumentation einer aufgrund der neuen Kriegssituation in Europa bereits historischen Situation. Die deutsche Exil-Kritik vermisste eine konkrete, in die Zukunft weisende politische Perspektive.
Die deutsche Nachkriegskritik schließlich zog vor allem Parallelen zur Situation der aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten bei Kriegsende vertriebenen Deutschen – Remarques Anklage des Nationalsozialismus spielte nahezu keine Rolle mehr.
Auch der Autor Remarque war mit seinem Roman nicht zufrieden. Nach der Veröffentlichung der Buchausgabe vermerkte er in seinem Tagebuch, dass es vermutlich besser gewesen wäre, die (fiktive) Geschichte Steiners in den Vordergrund zu stellen, anstatt die für sein Werk ungewöhnliche Vorgehensweise zu wählen, die Erlebnisse von zwei, bzw. drei Protagonisten miteinander zu verschränken.
Dennoch stellt Liebe Deinen Nächsten auch heute noch eine aktuelle Anklage gegen die bürokratische und damit inhumane Behandlung von politisch oder ethnisch Verfolgten dar.  

 

Weiterführende Literatur (chronologisch)

Studien

 

James Gray. on second thought. Minneapolis/MI: University of Minnesota Press, 1946, 234–237.

Thomas A. Kamla. »Erich Maria Remarque: Liebe Deinen Nächsten«. Thomas A. Kamla. Confrontation with Exile. Studies in the German novel. Frankfurt/Main: Peter Lang, 1975 (Europäische Hochschulschriften I, 137), 77–85.

Richard A. Firda. Erich Maria Remarque. A thematic analysis of his novels. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1988 (American University Studies XIX, 8), 103–144.

Harley U. Taylor. Erich Maria Remarque. A literary and film biography. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1989 (American University Studies I, 65), 147–152.

Hans Wagener. Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, SC: University of South Carolina Press, 1991 (Understanding Modern European and Latin American Literature), 53–59.

Tilman Westphalen. »Nachwort. ›Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzel zu leben –‹«. Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1991 (KiWi 248), 321–338.

Justyna Iwanowska. Erich Maria Remarque und seine Auseinandersetzung mit dem Krieg. Poznań: Adam Mickiewicz-Universität [Magisterarbeit], 1994, [masch.] 76 pp.

E.V. Zavarzina. Sopostavitel’nij analiz perevodov romana E.M. Remarka »Vozliubi blizhnego svoego«. Magadan: MPU, 1997 [Diplomarbeit].

Tilman Westphalen. »Ein Mensch ohne Paß ist eine Leiche auf Urlaub«. Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 493), 321–340.

Mareike Garber. Der Weg ins Exil– Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten – Roman. Bonn: Rheinische Friedhelm-Wilhelms-Universität [Magisterarbeit], 2001, [masch.] 89 pp.

Fabienne Amgwerd. Form und Funktion des Komischen bei Erich Maria Remarque. Eine Analyse seiner drei frühen Exil-Romane »Drei Kameraden«, »Liebe Deinen Nächsten« und »Arc de Triomphe«. Fribourg: Universität Fribourg [Lizentiatsarbeit], 2003, [masch.] 146 pp.

Fabienne Amgwerd. »Form und Funktion des Komischen bei Remarque. Eine Analyse seiner drei frühen Exil-Romane Drei Kameraden, Liebe Deinen Nächsten und Arc de Triomphe«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 15 (2005), 7–35.

Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, 99–128.

Fangfang Xu. »Das gemeinsame Schicksal der kleinen Leute im Zweiten Weltkrieg in ›Liebe Deinen Nächsten‹ von Erich Maria Remarque«. Literaturstraße 11 (2010), 279–303.

Brygida Sobótka. »Stil und Sprache Erich Maria Remarques am Beispiel der Exilromane Liebe Deinen Nächsten und Arc de Triomphe«. Studniem. Studia Niemcoznawcze. Studien zur Deutschkunde 49 (2012), 587–596.

Brygida Sobótka. »Die deutsche Emigration als Vertreter der ›Verlorenen Generation‹ in den Romanen von Erich Maria Remarque«. Studia niemcoznawcze 53 (2014), 425–433.

Thomas F. Schneider. »Strandgut. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten«. Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1575), 528–552.

 

Rezensionen

Harold Strauss. »The New Novel by Remarque. ‘Flotsam’ is a story dealing poignantly with the life of refugees«. New York Times Book Review, 20.04.1941 [R-A 8.9.007].

Milton Rugoff. »Wandering Refugees of the Western Front. Symbols of suffering, etched here with wintry starkness«. New York Herald Tribune, 20.04.1941 [R-A 8.9.008].

Clifton Fadiman. »Books. Disappointments«. New Yorker, 26.04.1941 [R-A 8.9.010].

Ben Ray Redman. »The Breaking of Men«. Saturday Review of Literature (New York), 26.04.1941 [R-A 8.9.011/1941].

»The Meaning of Exile«. Time, 28.04.1941, 91–92 [R-A 8.9.013].

Hans Jahn. Das Andere Deutschland (Buenos Aires) V (1942), 48 (März), 8–9 [R-A 8.9.021/001].

Roha [d.i. Heinz Willmann]. Internationale Literatur (Moskau), 1942, 5/6 (Mai/Juni), 126-128 [?].

Frango [d.i. Franz Goldstein]. Orient (Haifa), 1942, 12 (19.06.1942), 23–24 [?].

A.W. Berendson. Die humanistische Front (Zürich), 1946 [?].

Martin Ruppert. »Die Bruderschaft der Illegalen«. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.08.1953 [R-A 8.9.024].