Der aus dem nationalsozialistischen
Deutschland geflüchtete jüdische Student Ludwig Kern wird 1935 in Wien während
einer Hotelrazzia verhaftet. Während er auf seine Abschiebung wartet, lernt er
Josef Steiner kennen, der in Deutschland aus politischen Gründen verhaftet
worden war und aus einem Konzentrationslager nach Österreich hatte fliehen
können. An der Grenze zur Tschechoslowakei trennen sich Kern und Steiner:
Steiner kehrt nach Wien zurück, um im Prater illegal bei einem Schausteller zu
arbeiten, Kern geht nach Prag, um nach seinem Vater zu suchen.
In Prag lernt Kern die ebenfalls aus Deutschland geflüchtete Jüdin Ruth Holland
kennen, in die er sich verliebt. Ruth reist nach Wien weiter, weil sie dort
arbeiten kann, Kern folgt ihr illegal, nachdem er seinen Vater gefunden hat.
In Wien treffen Kern, Ruth und Steiner wieder zusammen. Kern wird verhaftet und
abgeschoben, kehrt aber nach Wien zurück, um Ruth, die inzwischen in die
Schweiz weitergereist ist, zu folgen. Auch für Steiner wird die Situation in
Wien zu gefährlich, er flüchtet über die Schweiz nach Paris.
In Zürich trifft Kern Ruth, ihre Bemühungen um eine Aufenthaltserlaubnis
bleiben erfolglos; Kern wird erneut verhaftet und nach Frankreich abgeschoben.
In Genf trifft er sich mit Ruth, beide gehen gemeinsam nach Paris, da sie dort
hoffen, Arbeit zu finden.
In Paris kreuzen sich die Wege von Ruth, Kern und Steiner sowie zahlreicher
anderer Emigranten erneut.
Steiner erhält einen Brief von seiner Frau, die er in Deutschland zurücklassen
musste, und erfährt, dass sie in den nächsten Tagen sterben wird. Obwohl er
sich bewusst ist, in Deutschland sofort verhaftet zu werden, bricht Steiner
unverzüglich auf, um seine Frau ein letztes Mal zu sehen. In seiner Heimatstadt
angekommen, wird Steiner von seinem ehemaligen Peiniger Steinbrenner verhaftet,
erreicht jedoch, daß er seine Frau in ihren letzten
Lebenstagen täglich besuchen darf. Nach ihrem Tod stürzt sich Steiner aus dem
Fenster des Krankenhauses und reißt Steinbrenner mit in den Tod.
Ruth und Kern haben durch die Erbschaft eines anderen jüdischen Emigranten in
Paris Pässe und Fahrkarten nach Mexiko erhalten. Auf den
Champs-Elysées nehmen sie Abschied von Europa.
In diese drei Flüchtlingsbiographien ist eine Vielzahl von Beschreibungen von
Emigrantenschicksalen integriert, von in der Regel erfolglosen Versuchen,
Aufenthaltsgenehmigungen, gültige Pässe, Affidavits oder
Durchreisegenehmigungen zu erhalten und anderen bürokratischen Schikanen. Die
Protagonisten erfahren Hilfsbereitschaft und Denunziation, Humanität und
Verfolgung. Liebe Deinen Nächsten bietet so ein Panoptikum der Situation von
Emigranten in der Tschechoslowakei, Österreich, der Schweiz und Frankreich von
Mitte der 30er Jahre bis zum Kriegsausbruch 1939.
Kern unterschrieb seine zweite Ausweisung
aus Österreich. Sie war lebenslänglich. Er fühlte diesesmal
nichts mehr dabei. Er dachte nur daran, daß er
wahrscheinlich am nächsten Vormittag wieder im Prater sein würde.
»Haben Sie in Wien noch irgendwelche
Sachen mitzunehmen?« fragte der Beamte.
»Nein, nichts.«
»Sie wissen, daß
Sie mindestens drei Monate Gefängnis riskieren, wenn Sie wieder nach Österreich
kommen?«
»Ja.«
Der Beamte sah Kern eine Weile an. Dann
griff er in die Tasche und schob ihm einen Fünfschillingschein zu. »Hier,
trinken Sie eins dafür. Ich kann die Gesetze auch nicht ändern. Nehmen Sie Gumpoldskirchner. Der ist dieses Jahr am besten. Und nun
los!«
»Danke!« sagte
Kern überrascht. Es war das erstemal, daß er auf der Polizei etwas geschenkt bekam. »Danke
vielmals! Ich kann das Geld gut gebrauchen.«
»Schon gut, schon gut! Machen Sie jetzt,
daß Sie rauskommen! Ihr Begleitsmann
wartet schon im Vorzimmer.«
Kern steckte das Geld ein. Er konnte
damit nicht nur zwei Viertel Gumpoldskirchner bezahlen,
sondern auch mit der Straßenbahn nach Wien zurückfahren. Das war weniger gefährlich, und er
behielt außerdem noch zwei Schillinge übrig für unvorhergesehene Fälle.
Sie fuhren denselben Weg hinaus wie das erstemal mit Steiner. Kern hatte das Gefühl, daß es zehn Jahre her war seitdem.
Von der Endstation aus mußten sie noch ein Stück gehen. Nach einiger Zeit kamen
sie an einer Heurigenkneipe vorbei. Ein paar Tische und Stühle standen draußen
im Vorgarten. Kern erinnerte sich an den Rat des Beamten. »Wollen wir ein Glas
trinken?« fragte er den Begleitsmann.
»Was?«
»Gumpoldskirchner.
Der ist am besten dieses Jahr.«
»Können wir machen! Es ist sowieso noch
zu hell für den Zoll.«
Sie setzten sich in den Vorgarten und
tranken den herben, klaren Gumpoldskirchner. Es war
sehr still und friedlich rundumher. Der Himmel war klar und hoch und apfelgrün.
Ein Flugzeug summte wie ein ferner Falke in der Richtung nach Deutschland. Der
Wirt brachte ein Windlicht und stellte es auf den Tisch. Es war Kerns erster
Abend im Freien. Er hatte seit zwei Monaten keinen offenen Himmel und kein
offenes Land mehr gesehen. Es schien ihm, als ob er zum erstenmale
wieder atmete. Er saß still und genoß das bißchen Frieden, das er jetzt noch hatte. In ein, zwei
Stunden würde die Sorge und die Hetze wieder losgehen.
»Es ist wirklich zum Kotzen!« knurrte der Beamte plötzlich.
Kern sah auf. »Das finde ich auch!«
»Ich meine das anders.«
»Kann ich mir denken.«
»Ich meine mit euch Emigranten«,
erklärte der Beamte mürrisch. »Ihr bringt einem ja direkt die Berufsehre ins
Wanken! Nichts als Emigranten hat man mehr zu eskortieren! Jeden Tag dasselbe!
Immer von Wien zur Grenze. Was ist das schon für ein Leben! Nie mehr ein
ehrlicher, schöner Handschellentransport!«
»Vielleicht werden Sie uns in ein, zwei
Jahren auch in Handschellen zur Grenze bringen«, erwiderte Kern trocken.
»Das ist doch kein Ersatz!« Der Beamte sah ihn ziemlich verächtlich an. »Ihr seid
doch nichts, im polizeilichen Sinne! Ich habe den vierfachen Raubmörder Müller II
zu eskortieren gehabt, Revolver schußbereit – und
dann vor zwei Jahren den Frauenschlächter Bergmann und später den Aufschlitzer Brust, – garnicht zu
reden von dem Leichenschänder Teddy Blümel! Ja, das
waren noch Zeiten! Aber heute, ihr, – mit euch krepiert man ja vor Langeweile!« Er seufzte und trank sein Glas aus. »Immerhin, – Sie
verstehen wenigstens etwas von Wein. Wollen noch ein Viertel trinken! Diesmal
zahle ich.«
»Gut.«
Sie tranken einträchtig das zweite
Viertel. Dann brachen sie auf. Es war inzwischen dunkel geworden. Fledermäuse
und Nachtschmetterlinge huschten über den Weg.
Das Zollhaus war hell erleuchtet. Die
alten Beamten waren noch da. Der Begleitsmann
lieferte Kern ab. »Setzen Sie sich solange rein«, sagte einer der Beamten. »Es
ist noch zu früh.«
»Ich weiß«, erwiderte
Kern.
»So, Sie wissen das schon?«
»Natürlich. Die Grenzen sind ja unsere Heimat.«
(Kapitel
XI)
Erich Maria Remarque begann die Arbeit an
dem Text im Frühjahr 1938 auf der Basis der authentischen Geschichte Kerns, den
er in Porto Ronco/Schweiz getroffen hatte. Die Geschichte
Steiners ist fiktiv. Das Thema des Romans spiegelt sich im Motto des Textes: »Man
braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzeln zu leben« – die Frage der Wahrung
menschlicher Würde in einer Zeit, in der der Besitz gültiger Papiere über den
Wert eines Menschen und womöglich sein Überleben entscheidet. Über diesen
allgemein menschlichen Aspekt hinaus verband Remarque mit seinem Text eine
Anklage sowohl der nationalsozialistischen Verfolgung (darin eingeschlossen die
frühe Erwähnung von Konzentrationslagern) als auch der schikanösen Behandlung
von deutschen Emigranten in den vier beschriebenen Aufnahmeländern. Dieser
aktuelle Bezug des Textes ging jedoch aufgrund der raschen politischen Entwicklung
verloren – 1938 der »Anschluss« Österreichs, 1939 Kriegsausbruch und bis 1941
der deutsche Sieg über Frankreich und der Kriegseintritt der USA.
Der Roman erschien erstmals 1939 unter dem Titel Flotsam
(Strandgut) in dem amerikanischen Magazin Collier’s,
auf der Basis dieser Veröffentlichung erfolgte die Verfilmung unter dem Titel So Ends Out Night.
Erst 1941, kurz vor Kriegseintritt der USA und nach der Premiere der Verfilmung
erschien die erste Buchausgabe des vom Autor stark überarbeiteten Textes in den
USA; ebenfalls 1941 die deutschsprachige Erstausgabe unter dem neuen Titel Liebe
Deinen Nächsten im Exilverlag Bermann-Fischer in
Stockholm. Erst 1953 wurde der Roman in der Bundesrepublik Deutschland
publiziert.
In der Rezeption des Romans spiegelt sich der Verlust des aktuellen Gehalts des
Textes: Die amerikanische Kritik legte den Schwerpunkt auf den allgemein
menschlichen Aspekt, der Roman erschien als Dokumentation einer aufgrund der
neuen Kriegssituation in Europa bereits historischen Situation. Die deutsche
Exil-Kritik vermisste eine konkrete, in die Zukunft weisende politische
Perspektive.
Die deutsche Nachkriegskritik schließlich zog vor allem Parallelen zur
Situation der aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten bei Kriegsende
vertriebenen Deutschen – Remarques Anklage des Nationalsozialismus spielte
nahezu keine Rolle mehr.
Auch der Autor Remarque war mit seinem Roman nicht zufrieden. Nach der
Veröffentlichung der Buchausgabe vermerkte er in seinem Tagebuch, dass es
vermutlich besser gewesen wäre, die (fiktive) Geschichte Steiners in den
Vordergrund zu stellen, anstatt die für sein Werk ungewöhnliche Vorgehensweise
zu wählen, die Erlebnisse von zwei, bzw. drei Protagonisten miteinander zu
verschränken.
Dennoch stellt Liebe Deinen Nächsten auch heute noch eine aktuelle
Anklage gegen die bürokratische und damit inhumane Behandlung von politisch
oder ethnisch Verfolgten dar.
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