Bei dem 1995 bekanntgewordenen Manuskript handelt es
sich um zwei Manuskripte zu Im Westen nichts Neues, die beide mit
„I.W.n.N.“ betitelt sind: Ein vierseitiges in Blei verfaßtes Manuskript auf
liniertem Folio-Papier zeigt eine frühe, autobiographisch orientierten Fassung
des Textes beginnend mit „Mein Vater ist ein einfacher Mann, ein Handwerker“. Im
Westen nichts Neues sollte hier noch die Kriegserlebnisse Paul Bäumers
chronologisch erzählen. Die wenig korrigierte Niederschrift bricht nach vier
Seiten ab, es handelt sich demnach um einen nicht ausgeführten Entwurf. Das
zweite Manuskript zeigt eine vollständige, in Blei auf liniertem
Foliopapier/Doppelseiten, von denen jeweils fünf zu einer Sektion
zusammengelegt wurden, verfaßte spätere Fassung von Im Westen nichts Neues.
Die einzelnen Sektionen sind paginiert von „2/“ bis „10/“, Sektion 1 ist nicht
paginiert. Die Doppelseiten wurden zunächst einseitig beschrieben, auf den
gegenüberliegenden Seiten wurden später zum Teil umfangreiche Korrekturen
eingefügt, die durch Einschubverweise gekennzeichnet sind. Einige Seiten sind
beschnitten, d.h. von Remarque verworfene Teile wurden ausgeschnitten, andere
Korrekturen erfolgten mit Radiergummi (Rasuren). Die Schnitte gehören jedoch zu
einer früheren Korrekturstufe als die auf den gegenüberliegenden Seiten
notierten Korrekturen. Auf einigen Seiten, vor allem in Sektion 1, befinden
sich Korrekturauszeichnungen mit blauem Farbstift, die vermutlich nicht von
Remarque stammen. Die Integrität des Manuskriptes ist gewahrt: es fehlen weder
Seiten (mit Ausnahme der Beschneidungen, die aber noch als Sofortkorrekturen
gewertet werden können), noch wurden Seiten aus anderen Überlieferungsträgern
hinzugefügt. Entstehungsgeschichtlich geht das Manuskript unmittelbar dem im
New Yorker Nachlaß verwahrten Typoskript mit eigenhändigen Korrekturen voraus,
das dem Ullstein-Konzern als Druckvorlage für den Vorabdruck in der Vossischen
Zeitung und für die Buchausgabe im Propyläen-Verlag diente. Es ist somit auf
den Herbst/Winter 1927 zu datieren. Aus einer Notiz zu Kapitel XII - „Irma,
hier größeren Abstand lassen“ - geht hervor, daß dieses Manuskript von einer
Sekretärin, die Remarque beschäftigte, abgeschrieben wurde. Damit ist eine
direkte Verbindung zum New Yorker Typoskript hergestellt. Ein Vergleich des
Manuskriptes mit dem ebenfalls in New York verwahrten Manuskript-Rest und einem
der beiden vorhandenen Pläne zur Konzeption des Textes ergibt Hinweise darauf,
daß es noch mindestens eine weitere vollständige handschriftliche Niederschrift
des Romans gegeben haben muß, die dem vorliegenden Manuskript zeitlich
vorausging. Beide Manuskripte sind in einem außergewöhnlich guten, trotz der
(geringen) Beschneidungen als vorzüglich zu bezeichnenden Zustand. Ausnahmen:
in Sektion 1 einige Knicke in den oberen rechten Ecken, sowie an zwei Stellen
Rostspuren durch noch vorhandene Büroklammern. Die Bleistiftniederschrift ist
an keiner Stelle verwischt oder ausgeblichen, allerdings sind die bereits
erwähnten Rasuren erkennbar. Im Vergleich mit anderen bekannten
Bleistift-Manuskripten Remarques ist der Zustand exzellent. Die besondere
Bedeutung der beiden Manuskripte liegt für den frühen Entwurf in dem
zweifelsfrei gegebenen autobiographischen Gehalt, für die vollständige
Niederschrift in der Einzigartigkeit eines vollständig erhaltenen,
handschriftlichen Überlieferungsträgers zu Im Westen nichts Neues sowie
in den umfangreichen Korrekturen, die in Verbindung mit dem in New York
verwahrten Typoskript ein umfassendes und detailliertes, auch inhaltlich
interessantes Bild der Arbeitsweise Remarques an diesem weltberühmten Text
bieten. Es muß einer detaillierten wissenschaftlichen Analyse überlassen
bleiben, welche konkreten inhaltlichen Aufschlüsse, vor allem für den
autobiographischen Gehalt und die Arbeitsweise Remarques, die Manuskripte
bieten. Auch im Zusammenhang mit den noch nach dem Vertragsabschluß mit dem
Ullstein-Konzern im August 1928 erfolgten Veränderungen des Textes durch
Remarque dürften die Manuskripte neue Aufschlüsse über die ursprüngliche
Intention und Zielsetzung geben, die Remarque mit seinem Kriegsroman verfolgte.
Das Manuskript von Im Westen nichts Neues war wie
der Autor und die Entstehung stets Gegenstand von Spekulationen. Einige Quellen
berichten, der Autor habe das Manuskript zerschnitten und die Einzelteile an
Freunde verschenkt oder Liebhaber verkauft. Alle diese Berichte haben sich
nunmehr als Fehlinformationen herausgestellt. Das vorliegende Manuskript stammt
aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Besitz oder Nachlaß von Remarques erster
Ehefrau Ilse Jutta Zambona (1901 - 1975). Bereits 1993 wurde das Manuskript
durch einen Mittelsmann in Europa, Japan und den USA zu einem Fabelpreis
offeriert - erfolglos. Mitte 1995 übernahm das renomierte Londoner Auktionshaus
Sotheby’s die Vermittlung für die damalige Besitzerin, die im süddeutschen Raum
lebt. Die ursprünglichen Preisvorstellungen von mehr als DM 1 Million konnten schließlich
auf der Auktion am 1. Dezember 1995 nicht erzielt werden. Für £ 250.000 erwarb
die Niedersächsische Sparkassenstiftung in Zusammenarbeit mit dem
Bundesministerium des Inneren unter der Koordination des Niedersächsischen
Ministeriums für Wissenschaft und Kultur das Manuskript, das dem
Remarque-Archiv Osnabrück im April 1996 als Depositum übergeben wurde.