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Schatten im Paradies (New York Intermezzo)

Roman

 

Erstausgabe der zensierten Fassung: Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies. Roman. München: Droemer Knaur, 1971.

Erstausgabe der Originalfassung und aktuelle Ausgabe: Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies (New York Intermezzo). Roman. In der Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1634).

 

 

 


Inhalt

 

Lange nach Ende Zweiten Weltkrieges berichtet der Emigrant Robert Ross, dessen tatsächlicher Name unbekannt bleibt, über seine Erlebnisse während seines Exils in den USA 1944/45. Ross war kritischer Journalist in der Weima­rer Republik, wurde 1933 verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht, wo er den Foltertod seiner Frau Sybil mitansehen musste. Durch einen Zufall wurde er entlassen, danach emigrierte er mit seinen Eltern nach Wien, wo der Vater ermordet wurde. Nach dem »Anschluss« Österreichs floh er über die Niederlande nach Belgien, wo er sich nach Kriegsausbruch längere Zeit in einem Museum in Brüssel versteckte, ehe er nach Frankreich floh, wo er im Lager Gurs interniert war. Über Lissabon erreichte er schließlich New York, dort knüpfte er enge Kontakte zur Emigrantengemeinschaft, verliebte sich in das russischstämmige Mannequin Natascha Petrowna und arbeitete als Registrar zunächst bei einem Antiquitäten-, dann bei einem Kunsthändler, der ihn für einige Wochen nach Los Angeles schickte. Nach der Rückkehr nach New York und nach Kriegsende trennte er sich von Natascha und kehrte nach Europa und Deutschland zurück, um erfolglos die Mörder seiner Frau und seines Vaters zu suchen.

 

Auszüge

Ich lebte in dieser Zeit in einem sonderbaren Zustand in Amerika, – so, als ob ich gleichzeitig zehn und fünf­unddreißig Jahre alt sei. Ich war vor einigen Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lissabon angekommen und konnte nur wenig Englisch, – das war, als wäre ich halb stumm und halb taub und von einem anderen Planeten hier ausgesetzt worden. Es war auch ein anderer Planet, denn in Europa herrschte Krieg.

Dazu kam, daß meine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich hatte zwar, durch viele Wunder, ein gültiges amerikanisches Visum, mit dem ich angekommen war; aber mein Paß lautete auf einen anderen Namen als meinen. Die Immigrationsbehörden waren mißtrauisch geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt. Nach sechs Wochen hatten sie mir dann eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben; in dieser Zeit sollte ich mir eine Einreisegenehmigung in ein anderes Land besorgen. Ich kannte das von Europa her. Ich hatte dort seit Jahren so existiert, – nicht von einem Monat, sondern von einem Tag zum andern. Als deutscher Emigrant war ich ohnehin seit 1933 offiziell tot, – jetzt für drei Monate nicht mehr auf der Flucht sein zu müssen, war bereits ein unfaßbarer Traum. Es schien mir auch schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen Namen zu haben und mit dem Paß eines Toten zu leben, – im Gegenteil, eher passend. Ich hatte den Paß in Frankfurt geerbt; der Mann, der ihn mir am Tage, als er starb, geschenkt hatte, nannte sich nach ihm Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert Ross. Meinen wirklichen Namen hatte ich fast vergessen. Man kann viel vergessen, wenn es ums nackte Leben geht. (Kapitel I)

 

Ich ging hinunter in die Plüschbude, in der nur noch ein trübseliges Licht brannte. In der Ecke schnarchte der Mann, der Meukow dreimal in der Woche vertrat. Er sah mit dem gefurchten, von Seele entleerten Gesicht und dem offenen, stöhnenden Mund selbst wie ein Gefolterter aus, der soeben bewußtlos von einem Fleischerhaken losgemacht worden war.

Ich gehörte zu ihnen, dachte ich, ich gehörte zu dieser Horde von Mördern, es war mein Volk, ganz gleich, was ich mir am Tage vortäuschen mochte, ganz gleich, ob sie mich gejagt und verstoßen und ausgebürgert hatten, ich war unter ihnen geboren, und es war töricht, wenn ich mir vormachen wollte, daß ein treues, ehrliches, unwissendes Volk durch eine Anzahl Legionen vom Mars überfallen und hypnotisiert worden sei. Diese Legionen waren unter ihm selbst aufgewachsen, sie hatten sich aus brüllenden Kasernenhofschindern und tobenden Demagogen entwickelt, es war der alte, von Oberlehrern angebetete furor teutonicus gewesen, der zwischen Gehorsamsknechten, Uniformvergötzern und viehischem Atavismus aufgeblüht war; mit der einzigen Einschränkung freilich, daß das Vieh niemals so war. Es war keine Einzelerscheinung! Die Wochenschauen mit ihren Zehntausenden von aufgerissenen, tobenden Mäulern waren nicht einem geduldigen, unwilligen Volk befohlen, es war das Urvolk selbst, das jauchzte, das die dünne Schicht der Zivilisation durchbrochen hatte und sich nun in seiner barbarischen Blut-Scheiße wälzte. Furor teutonicus! Heiliges Wort meines bebrillten Vollbart-Oberlehrers! Wie er es schmeckte! Wie selbst Thomas Mann es noch geschmeckt hatte zu Beginn des ersten Krieges, als er die Gedanken zum Kriege schrieb und Friedrich und die Große Koalition! Thomas Mann, der Hort und Führer der Emigranten. Wie tief mußte die Barbarei sitzen, wenn sie selbst in diesem humanen und humanistischen Dichter noch zum Ausdruck kommen konnte!

Ich trat auf die Straße. Die Nacht schlief noch zwischen den Mauern. Ich wandte mich gegen den Broadway, auf der Suche nach Licht. Ein paar Hamburger Heavens, die die ganze Nacht offen hatten, schütteten ihren kalten Neonglanz über die Straße. In einigen hockten Leute auf Barstühlen wie verdammte Geister. Licht ohne Menschen war gespensterhafter als Dunkel, es war zwecklos in unserem immer auf Zweck ausgerichteten Dasein und wirkte mondhaft, als schiene es in Kratern, die in Häusern eingelassen und verlassen waren.

Ich blieb vor einem Delikatessengeschäft stehen. Im Fenster trauerten Mortadella-Würste und TV-Abendessen, mit Plastik und Aluminium gegen die Luft abgedichtet. Irwin Wolff hieß der Besitzer, der wahrscheinlich zur rechten Zeit Europa verlassen hatte. Ich starrte auf den Namen. Nicht einmal das hatte ich als Ausrede. Nicht einmal diese künstliche Unterscheidung, durch die Marsbewohner herbeigezaubert, konnte ich benutzen! Ich konnte nicht sagen, daß ich ein Jude wäre, ich konnte das nicht anwenden, um festzustellen, daß ich mit den Teutonen nichts zu tun hätte; ich konnte sie nicht mit ihren eigenen falschen Waffen schlagen. Ich gehörte zu ihnen, ich war einer der Ihren, und wenn mich in diesem nebligen Morgengrauen Herr Irwin Wolff plötzlich konfrontiert hätte und mir mit einem Messer nachgejagt wäre, als einer der Mörder seines Volkes, so wäre ich in dieser Stunde nicht überrascht gewesen. (Kapitel XXIII)
 

Kontext / Analyse

Schatten im Paradies ist der letzte Roman von Erich Maria Remarque und wurde postum veröffentlicht. Er schließt thematisch direkt an Die Nacht von Lissabon an. Die Reise des Exilanten von Lissabon nach Amerika ins rettende »Paradies« wird fortgesetzt, und es folgt ein trauriges Erwachen aus dem schönen Traum, dass dort alles besser sei. Der Held des Romans erfährt starke Ablehnung als Fremder in den USA und sieht sich oft gedemütigt.
Remarque selbst konnte den Roman vor seinem Tode nicht mehr vollenden und absegnen. Er starb am 25. September 1970, so dass seine Frau Paulette Goddard-Remarque sich der Vermarktung des Werkes annahm. Am 20. April 1971 überreichte sie das Manuskript im Rahmen einer großen Presse- und Medienshow im Münchner Verlagshaus Droemer Knaur dem Verleger Willy Droemer. Zuvor hatte Paulette Goddard gemeinsam mit Remarques Agenten Felix Guggenheim den Roman meistbietend verkauft, weshalb dieser bei Droemer Knaur und nicht wie bisher bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Der Verlagswechsel fand angeblich wegen der Vorschuss-Differenz von 25.000 Dollar statt.
Die daraufhin bei Droemer Knaur veröffentlichte Fassung entspricht nicht der OriginalfassungRemarques. Nahezu jeder Satz wurde geändert und ein Fünftel des Textes ersatzlos gestrichen. So ist auch der Titel nicht von Remarque selbst gewählt, sondern von der Lektorin bestimmt worden. Die Veränderungen betrafen nahezu jeden Aspekt des Textes. Namen und Fakten wurden verändert, so dass kritische Passagen über die USA fast völlig herausgekürzt sind. Wiederholungen, lange Ausführungen und philosophische Passagen wurden gestrichen, und Aussagen über das Nachkriegsdeutschland und die Lebensform der USA entschärft.
Nach den Aussagen von Paulette Goddard soll es angeblich fünf bis sechs Fassungen des Romans gegeben haben, die alle von Remarque zu Lebzeiten verfasst wurden. In Wirklichkeit waren es jedoch nur zwei, und zwar die erste Fassung Schatten im Paradies, die Remarque 1967 beendete, und die Neufassung unter dem Titel Das gelobte Land, die er danach begann. Die beiden Versionen weisen große Unterschiede auf, besonders in der Namensgebung.
Nach der Veröffentlichung von Schatten im Paradies hagelte es schlechte Kritiken in Deutschland und erstmals auch in den USA. Die Handlung wurde für mangelhaft gehalten und die Helden für fragwürdig. Vor allem die Hauptfigur wurde als zu grundlos traurig und zu wehleidig bemängelt. Der Roman erschien den Kritikern eher unfertig und sie vermissten Remarques eigene, kritische Überarbeitung.
Doch trotz der eher schlechten Kritiken, erreichte der Roman in Kürze Rekordauflagen und rangierte in den Bestsellerlisten zwischen Platz zwei und vier. Denn thematisch wichtig war die erstmalige Auseinandersetzung Remarques mit dem Lebensstil der Amerikaner, einer Welt in der er einen Großteil seiner Exilzeit verbrachte. Doch nicht nur der amerikanische Lebenswandel wird kritisiert. Remarque äußert vor allem seine Enttäuschung über die deutsche Restaurationsmentalität und warnt vor der Verdrängung der Naziverbrechen.
Die bisherige Rezeption des Romans ist jedoch wesentlich von der zensierten und stark gekürzten Fassung geprägt. Erst 2018 konnte Remarques Originalfassung rekonstruiert und veröffentlicht werden. Sie trägt den alten Titel Schatten im Paradies sowie Remarques originalen Titel New York Intermezzo.

Maren Koch

 

Weiterführende Literatur

Studien und wissenschaftliche Arbeiten

 

Hans Wagener. »Erich Maria Remarque: Shadows in Paradise«. John M. Spalek, Robert F. Bell (eds.). Exile. The writers’ experience. Chapel Hill/NC: University of North Carolina Press, 1982, 247–257.

Richard A. Firda. Erich Maria Remarque. A thematic analysis of his novels. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1988 (American University Studies XIX, 8), 261–282.

Harley U. Taylor. Erich Maria Remarque. A literary and film biography. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1989 (American University Studies I, 65), 257–264.

Hans Wagener. Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, SC: University of South Carolina Press, 1991 (Understanding Modern European and Latin American Literature), 106–114.

Marc Wilhelm Küster. »Die Manuskriptlage zu Remarques Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 5 (1995), 88–108.

Tilman Westphalen. »Nachwort. ›Alles war falsch. Ich muß noch einmal anfangen ... Und wir sind schon so müde‹«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995 (KiWi 389), 495–512.

T[homas F.]S[chneider]. »Erläuterungen«. Erich Maria Remarque. Das unbekannte Werk. Frühe Prosa. Werke aus dem Nachlaß. Briefe und Tagebücher. Herausgegeben von Tilman Westphalen und Thomas F. Schneider. Vol. 2: Das gelobte Land. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, 433–442.

Tilman Westphalen. »Ein Tornister voll mit Blei«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 481), 495–514.

Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, 129–158.

Katharina Schulenberg. »Perspektive Amerika? Vergangenheitsbewältigung vs. Zukunftspläne in den posthum veröffentlichten Romanen Das gelobte Land und Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 16 (2006), 34–89.

Thomas F. Schneider. »›Nicht der Mörder, der Ermordete war schuldig‹. Zu Erich Maria Remarques nachgelassenem Roman«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies (New York Intermezzo). Roman. In der Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1634), 687–711.