Lange nach Ende Zweiten Weltkrieges berichtet der Emigrant
Robert Ross, dessen tatsächlicher Name unbekannt bleibt, über seine Erlebnisse
während seines Exils in den USA
1944/45. Ross war
kritischer Journalist in der Weimarer Republik, wurde 1933 verhaftet und in
ein Konzentrationslager gebracht, wo er den Foltertod seiner Frau Sybil
mitansehen musste. Durch einen Zufall wurde er entlassen, danach emigrierte er
mit seinen Eltern nach Wien, wo der Vater ermordet wurde. Nach dem »Anschluss«
Österreichs floh er über die Niederlande nach Belgien, wo er sich nach
Kriegsausbruch längere Zeit in einem Museum in Brüssel versteckte, ehe er nach
Frankreich floh, wo er im Lager Gurs interniert war.
Über Lissabon erreichte er schließlich New York, dort knüpfte er enge Kontakte
zur Emigrantengemeinschaft, verliebte sich in das russischstämmige Mannequin
Natascha Petrowna und arbeitete als Registrar zunächst bei einem Antiquitäten-, dann bei einem
Kunsthändler, der ihn für einige Wochen nach Los Angeles schickte. Nach der
Rückkehr nach New York und nach Kriegsende trennte er sich von Natascha und
kehrte nach Europa und Deutschland zurück, um erfolglos die Mörder seiner Frau
und seines Vaters zu suchen.
Ich
lebte in dieser Zeit in einem sonderbaren Zustand in Amerika, – so, als ob ich
gleichzeitig zehn und fünfunddreißig Jahre alt sei. Ich war vor einigen
Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lissabon angekommen und konnte nur wenig
Englisch, – das war, als wäre ich halb stumm und halb taub und von einem
anderen Planeten hier ausgesetzt worden. Es war auch ein anderer Planet, denn
in Europa herrschte Krieg.
Dazu kam, daß meine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich hatte zwar,
durch viele Wunder, ein gültiges amerikanisches Visum, mit dem ich angekommen
war; aber mein Paß lautete auf einen anderen Namen
als meinen. Die Immigrationsbehörden waren mißtrauisch
geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt. Nach sechs Wochen hatten
sie mir dann eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben; in dieser
Zeit sollte ich mir eine Einreisegenehmigung in ein anderes Land besorgen. Ich
kannte das von Europa her. Ich hatte dort seit Jahren so existiert, – nicht von
einem Monat, sondern von einem Tag zum andern. Als deutscher Emigrant war ich
ohnehin seit 1933 offiziell tot, – jetzt für drei Monate nicht mehr auf der
Flucht sein zu müssen, war bereits ein unfaßbarer
Traum. Es schien mir auch schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen
Namen zu haben und mit dem Paß eines Toten zu leben,
– im Gegenteil, eher passend. Ich hatte den Paß in
Frankfurt geerbt; der Mann, der ihn mir am Tage, als er starb, geschenkt hatte,
nannte sich nach ihm Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert Ross. Meinen
wirklichen Namen hatte ich fast vergessen. Man kann viel vergessen, wenn es ums
nackte Leben geht. (Kapitel I)
Ich ging
hinunter in die Plüschbude, in der nur noch ein trübseliges Licht brannte. In
der Ecke schnarchte der Mann, der Meukow dreimal in
der Woche vertrat. Er sah mit dem gefurchten, von Seele entleerten Gesicht und
dem offenen, stöhnenden Mund selbst wie ein Gefolterter aus, der soeben bewußtlos von einem Fleischerhaken losgemacht worden war.
Ich gehörte zu ihnen, dachte ich, ich gehörte zu dieser
Horde von Mördern, es war mein Volk, ganz gleich, was ich mir am Tage
vortäuschen mochte, ganz gleich, ob sie mich gejagt und verstoßen und
ausgebürgert hatten, ich war unter ihnen geboren, und es war töricht, wenn ich
mir vormachen wollte, daß ein treues, ehrliches,
unwissendes Volk durch eine Anzahl Legionen vom Mars überfallen und hypnotisiert worden sei.
Diese Legionen waren unter ihm selbst aufgewachsen, sie hatten sich aus
brüllenden Kasernenhofschindern und tobenden Demagogen entwickelt, es war der
alte, von Oberlehrern angebetete furor teutonicus gewesen, der zwischen Gehorsamsknechten, Uniformvergötzern und viehischem Atavismus aufgeblüht war;
mit der einzigen Einschränkung freilich, daß das Vieh
niemals so war. Es war keine Einzelerscheinung! Die Wochenschauen mit ihren
Zehntausenden von aufgerissenen, tobenden Mäulern waren nicht einem geduldigen,
unwilligen Volk befohlen, es war das Urvolk selbst, das jauchzte, das die dünne
Schicht der Zivilisation durchbrochen hatte und sich nun in seiner barbarischen
Blut-Scheiße wälzte. Furor teutonicus! Heiliges Wort
meines bebrillten Vollbart-Oberlehrers! Wie er es schmeckte! Wie selbst Thomas
Mann es noch geschmeckt hatte zu Beginn des ersten Krieges, als er die Gedanken
zum Kriege schrieb und Friedrich und die Große Koalition! Thomas Mann, der Hort
und Führer der Emigranten. Wie tief mußte die
Barbarei sitzen, wenn sie selbst in diesem humanen und humanistischen Dichter
noch zum Ausdruck kommen konnte!
Ich trat auf die Straße. Die Nacht schlief noch
zwischen den Mauern. Ich wandte mich gegen den Broadway, auf der Suche nach
Licht. Ein paar Hamburger Heavens, die die ganze
Nacht offen hatten, schütteten ihren kalten Neonglanz über die Straße. In
einigen hockten Leute auf Barstühlen wie verdammte Geister. Licht ohne Menschen
war gespensterhafter als Dunkel, es war zwecklos in unserem immer auf Zweck
ausgerichteten Dasein und wirkte mondhaft, als
schiene es in Kratern, die in Häusern eingelassen und verlassen waren.
Ich blieb vor einem Delikatessengeschäft stehen. Im Fenster
trauerten Mortadella-Würste und TV-Abendessen, mit Plastik und Aluminium gegen
die Luft abgedichtet. Irwin Wolff hieß der Besitzer, der wahrscheinlich zur
rechten Zeit Europa
verlassen hatte. Ich starrte auf den Namen. Nicht einmal das hatte ich als
Ausrede. Nicht einmal diese künstliche Unterscheidung, durch die Marsbewohner
herbeigezaubert, konnte ich benutzen! Ich konnte nicht sagen, daß ich ein Jude wäre, ich konnte das nicht anwenden, um
festzustellen, daß ich mit den Teutonen nichts zu tun
hätte; ich konnte sie nicht mit ihren eigenen falschen Waffen schlagen. Ich
gehörte zu ihnen, ich war einer der Ihren, und wenn mich in diesem nebligen
Morgengrauen Herr Irwin Wolff plötzlich konfrontiert hätte und mir mit einem
Messer nachgejagt wäre, als einer der Mörder seines Volkes, so wäre ich in
dieser Stunde nicht überrascht gewesen. (Kapitel XXIII)
Schatten im Paradies
ist der letzte Roman von Erich Maria Remarque und wurde postum veröffentlicht.
Er schließt thematisch direkt an Die Nacht von Lissabon an. Die Reise des Exilanten von Lissabon nach Amerika ins rettende
»Paradies« wird fortgesetzt, und es folgt ein trauriges Erwachen aus dem
schönen Traum, dass dort alles besser sei. Der Held des Romans erfährt starke
Ablehnung als Fremder in den USA und sieht sich oft gedemütigt.
Remarque selbst konnte den Roman vor seinem Tode nicht mehr vollenden und
absegnen. Er starb am 25. September 1970, so dass seine Frau Paulette
Goddard-Remarque sich der Vermarktung des Werkes annahm. Am 20. April 1971
überreichte sie das Manuskript im Rahmen einer großen Presse- und Medienshow im
Münchner Verlagshaus Droemer Knaur
dem Verleger Willy Droemer. Zuvor hatte Paulette
Goddard gemeinsam mit Remarques Agenten Felix Guggenheim den Roman meistbietend
verkauft, weshalb dieser bei Droemer Knaur und nicht wie bisher bei Kiepenheuer & Witsch
erschien. Der Verlagswechsel fand angeblich wegen der Vorschuss-Differenz von
25.000 Dollar statt.
Die daraufhin bei Droemer Knaur
veröffentlichte Fassung entspricht nicht der OriginalfassungRemarques.
Nahezu jeder Satz wurde geändert und ein Fünftel des Textes ersatzlos
gestrichen. So ist auch der Titel nicht von Remarque selbst gewählt, sondern
von der Lektorin bestimmt worden. Die Veränderungen betrafen nahezu jeden
Aspekt des Textes. Namen und Fakten wurden verändert, so dass kritische Passagen
über die USA fast völlig herausgekürzt sind. Wiederholungen, lange Ausführungen
und philosophische Passagen wurden gestrichen, und Aussagen über das
Nachkriegsdeutschland und die Lebensform der USA entschärft.
Nach den Aussagen von Paulette Goddard soll es angeblich fünf bis sechs
Fassungen des Romans gegeben haben, die alle von Remarque zu Lebzeiten verfasst
wurden. In Wirklichkeit waren es jedoch nur zwei, und zwar die erste Fassung Schatten
im Paradies, die Remarque 1967 beendete, und die Neufassung unter dem Titel
Das gelobte Land, die er danach begann. Die beiden Versionen weisen
große Unterschiede auf, besonders in der Namensgebung.
Nach der Veröffentlichung von Schatten im Paradies hagelte es schlechte
Kritiken in Deutschland und erstmals auch in den USA. Die Handlung wurde für
mangelhaft gehalten und die Helden für fragwürdig. Vor allem die Hauptfigur
wurde als zu grundlos traurig und zu wehleidig bemängelt. Der Roman erschien
den Kritikern eher unfertig und sie vermissten Remarques eigene, kritische
Überarbeitung.
Doch trotz der eher schlechten Kritiken, erreichte der Roman in Kürze
Rekordauflagen und rangierte in den Bestsellerlisten zwischen Platz zwei und
vier. Denn thematisch wichtig war die erstmalige Auseinandersetzung Remarques
mit dem Lebensstil der Amerikaner, einer Welt in der er einen Großteil seiner
Exilzeit verbrachte. Doch nicht nur der amerikanische Lebenswandel wird
kritisiert. Remarque äußert vor allem seine Enttäuschung über die deutsche
Restaurationsmentalität und warnt vor der Verdrängung der Naziverbrechen.
Die bisherige Rezeption des Romans ist jedoch wesentlich von der zensierten und
stark gekürzten Fassung geprägt. Erst 2018 konnte Remarques Originalfassung
rekonstruiert und veröffentlicht werden. Sie trägt den alten Titel Schatten im Paradies sowie Remarques
originalen Titel New York Intermezzo.
Maren
Koch
Studien und wissenschaftliche Arbeiten
Hans Wagener.
»Erich Maria Remarque: Shadows in Paradise«. John M. Spalek,
Robert F. Bell (eds.). Exile. The writers’
experience. Chapel Hill/NC: University of North Carolina Press, 1982,
247–257.
Richard A. Firda. Erich
Maria Remarque. A
thematic analysis of his novels.
New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1988 (American University
Studies XIX, 8), 261–282.
Harley U. Taylor. Erich Maria Remarque. A literary and film biography. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang,
1989 (American University Studies I, 65), 257–264.
Hans Wagener. Understanding
Erich Maria Remarque. Columbia, SC: University of South Carolina Press,
1991 (Understanding Modern European and Latin American Literature), 106–114.
Marc Wilhelm Küster. »Die Manuskriptlage zu
Remarques Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 5 (1995), 88–108.
Tilman Westphalen. »Nachwort. ›Alles war
falsch. Ich muß noch einmal anfangen ... Und wir sind
schon so müde‹«. Erich Maria Remarque. Schatten
im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995 (KiWi 389),
495–512.
T[homas F.]S[chneider]. »Erläuterungen«. Erich Maria Remarque. Das unbekannte Werk.
Frühe Prosa. Werke aus dem Nachlaß. Briefe und
Tagebücher. Herausgegeben von Tilman Westphalen und Thomas F.
Schneider. Vol. 2: Das gelobte Land. Roman. Köln: Kiepenheuer &
Witsch, 1998, 433–442.
Tilman Westphalen. »Ein Tornister voll mit
Blei«. Erich Maria Remarque. Schatten
im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 481),
495–514.
Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006,
129–158.
Katharina Schulenberg.
»Perspektive Amerika? Vergangenheitsbewältigung vs. Zukunftspläne in den posthum
veröffentlichten Romanen Das gelobte Land
und Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 16 (2006), 34–89.
Thomas F. Schneider. »›Nicht der Mörder, der
Ermordete war schuldig‹. Zu Erich Maria Remarques nachgelassenem Roman«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies (New York Intermezzo). Roman. In der
Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F.
Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi
1634), 687–711.