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Die Nacht von Lissabon

Roman

 

 

Erstdruck: Erich Maria Remarque. »Die Nacht von Lissabon. Roman«. Welt am Sonntag (Berlin), 15.01. – 21.05.1961.

Erstausgabe: Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Roman. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1962 (Die Bücher der Neunzehn 96)

Aktuelle Ausgabe: Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1577).

 

 

In Die Nacht von Lissabon, 1962 erschienen und sein vorletztes Buch, schildert Remarque das Gespräch zweier Flüchtlinge vor dem Naziregime in einer Bar im Hafen von Lissabon vor dem Hintergrund einer möglichen Schiffspassage in die rettenden USA.

 


Inhalt

Der namenlose Ich-Erzähler steht im Jahre 1942 nachts am Kai von Lissabon und starrt auf ein im Hafen liegendes Schiff. Er will mit seiner Frau Ruth in das rettende Exil nach Amerika flüchten, hat jedoch weder einen Pass noch das nötige Visum. Ein Fremder spricht ihn an und bietet ihm zwei Schiffskarten und die nötigen Papiere. Dafür haben will er nichts, nur seine Lebensgeschichte, die Geschichte eines verfolgten Exilanten, will er dem Ich-Erzähler berichten.
Die ganze Nacht hindurch erzählt der Fremde, der eigentlich Osnabrücker ist, aber mit dem Pass eines verstorbenen Wieners reist, seine Geschichte. Er hat die Identität des Wieners Josef Schwarz angenommen und auf dessen Pass nur das Foto, sowie das Geburtsjahr geändert. Mit Hilfe dieses Passes kehrt er 1939 vor Ausbruch des Krieges in das Deutschland zurück, aus dem er 1933 vor den Nazis geflohen ist.
Als gesuchter Exilant reist er trotz Lebensgefahr ein, um seine über alles geliebte Frau Helen in Osnabrück wiederzusehen. Die Stadt und die Menschen findet er nach seiner langen Abwesenheit verändert vor. Sie scheinen sich regelrecht der Hypnose der Lautsprecher und der Zeitungen hinzugeben und verschließen die Augen vor Leid und Misshandlung. Er schafft es jedoch, Helen aus Nazi-Deutschland und aus ihrer faschistisch eingestellten Familie zu befreien, und flieht mit ihr. Jedoch ist das Glück nicht von langer Dauer, denn Helen ist schwer krebskrank und stirbt. Die Überfahrt nach Amerika erscheint ihm damit sinnlos, so dass er die Karten an den Ich-Erzähler verschenkt.
Der namenlose Ich-Erzähler hört die ganze Nacht lang zu und übernimmt dann den Pass des Wieners Josef Schwarz. Er nimmt ebenfalls die fremde Identität an und reist mit seiner Frau Ruth in die USA aus. Nach dem Krieg kehrt er aus dem Exil in das zerstörte Europa zurück, findet jedoch aufgrund seiner veränderten Identität keine Heimat mehr vor. Das gesicherte Überleben durch den gefälschten Pass ist so wertvoll, dass der Namenlose ihn noch an einen weiteren Träger übergibt. Der vierte Josef Schwarz ist Russe und über die Grenze nach Deutschland geflohen. Er steht somit für eine neue Flüchtlingswelle und dadurch für die ewige Fortführung des namenlosen Exil-Schicksals.
 

Auszüge

Das Schiff war ein Passagierdampfer, der beladen wurde. Ich wußte, daß es am nächsten Abend abgehen sollte. Im harten Schein der nackten elektrischen Birnen wurden Ladungen von Fleisch, Fisch, Konserven, Brot und Gemüse verstaut; Arbeiter schleppten Gepäck an Bord, und ein Kran schwang Kisten und Ballen so lautlos herauf, als wären sie ohne Gewicht. Das Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut. Es war eine Arche. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit langem überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das Gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren. Er mußte verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein-und Ausreisevisen, der unerreichbaren Arbeits-und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Paß alles. (Kapitel I)

Ich ging durch die am wenigsten belebten Straßen zum Dom. Es war nicht weit. In der Krahnstraße kam eine Kompanie marschierender Soldaten an mir vorbei. Sie sangen ein Lied, das ich nicht kannte. Auf dem Domplatz sah ich wieder Soldaten. Etwas weiter fort, vor den drei Kreuzen der Kleinen Kirche standen etwa zwei-oder dreihundert Personen dicht beieinander. Fast alle waren in Parteiuniform. Ich hörte eine Stimme und suchte nach dem Redner, aber ich fand keinen. Nach einer Weile entdeckte ich auf einem Podium einen schwarzen Lautsprecher. Er stand dort, beleuchtet, kahl und allein, ein Automat, und schrie über das Recht der Wiedereroberung allen deutschen Bodens, das größere Deutschland, Rache und die Tatsache, daß der Frieden der Welt gesichert sei, wenn die Welt das täte, was Deutschland wolle, und das sei das Recht.

Es war wieder windig geworden, und die schwankenden Zweige warfen ihre unruhigen Schatten über die Gesichter, die schreiende Maschine und die stillen Steinskulpturen auf der Kirchenwand dahinter: Christus und die beiden Schächer am Kreuze. Die Gesichter der Zuhörer waren gesammelt und verklärt. Sie glaubten, was der Automat ihnen zuschrie, und es war bezeichnend für die sonderbare Hypnose, die hier vorging, daß sie ihm, der sie nicht hören oder sehen konnte, zuklatschten, als sei er ein Mensch. Es schien mir auch bezeichnend zu sein für die leere, finstere Besessenheit unserer Zeit, die voll Furcht und Hysterie Schlagworten folgt, ganz gleich, ob jemand von rechts oder von links sie schreit, wenn er der Masse nur das lästige Denken und die Verantwortung abnimmt, für das einstehen zu müssen, was sie fürchtet und dem sie nicht ausweicht. (Kapitel IV)

Nach dem Kriege ging ich nach Europa zurück. Es machte einige Schwierigkeiten, meine Identität zu etablieren – denn zur selben Zeit gab es Hunderte von Herrenmenschen in Deutschland, die die ihre zu verlieren suchten. Den Paß der beiden Schwarz schenkte ich einem Russen, der über die Grenze geflohen war – eine neue Welle von Emigranten hatte begonnen, sich zu formen. Weiß Gott, wo er inzwischen geblieben ist! Von Schwarz habe ich nie wieder etwas gehört. Ich fuhr sogar einmal nach Osnabrück und fragte nach ihm, obschon ich seinen wirklichen Namen vergessen hatte. Aber die Stadt war verwüstet, niemand wußte etwas von ihm, und niemand interessierte sich dafür. Auf dem Wege zurück zum Bahnhof glaubte ich, ihn zu erkennen. Ich lief ihm nach; aber es war ein verheirateter Postsekretär, der mir erzählte, daß er Jansen hieße und drei Kinder habe. (Kapitel XVIII)
 

Kontext/Analyse

Der 1962 veröffentlichte Roman Die Nacht von Lissabon steht an dritter Stelle einer Tetralogie von Exil-Romanen Remarques. Nach Liebe Deinen Nächsten (1941) und Arc de Triomphe (1946) erschien Die Nacht von Lissabon, und die Reihe wurde schließlich beendet durch den 1971 postum veröffentlichten Roman Schatten im Paradies. Die vier Romane erfassen zusammen die gesamte Zeit von 1933 bis hin zu den letzten Kriegsjahren. Während 1933 in Liebe Deinen Nächsten die Exil-Schauplätze noch Wien, Prag, die Schweiz und Paris sind und für die Figuren immer noch die Hoffnung auf einen Neubeginn in Mexiko besteht, schildert Remarque in Arc de Triomphe schon die Internierung in französische Lager 1939. Die zeitliche Folge wird eingehalten, und so umfasst Die Nacht von Lissabon die Zeitspanne von 1939 bis 1942 und beschreibt die verzweifelten Versuche der Exilanten in Europa, sich weiter von der Bedrohung durch das Regime zu entfernen. Bei diesen Versuchen wird der Pass in Remarques Roman zur zentralen Metapher für die Enthumanisierung des Einzelnen. Ohne Pass sind die Charaktere niemand und so gut wie tot.
In Dialogform berichten die Figuren in Die Nacht von Lissabon von ihrer durch das Exil zerstörten Identität und erzählen damit die reale und persönliche Geschichte Remarques. Sie ergänzen sich in ihren Äußerungen über die Erinnerungen, das Festhalten, die Vergänglichkeit und die Gespaltenheit ihrer Person. An Gott und dem Sinn des Lebens zweifeln sie, doch die Liebe hat sie in harten Zeiten stets überleben lassen.
Die Nacht von Lissabon ist also realer Tatsachenbericht und spannende Liebesgeschichte zugleich. Der Roman beschreibt den Alptraum der Rückkehr aus dem Exil in ein Land, in dem es keine Zukunft gibt. Remarque geht dabei ironisch und sarkastisch gegen das Deutschtum vor. Er versucht Schicksale zu objektivieren, um Mitleid beim Leser auszulösen und darüber ihren Verstand zu erreichen. Er will sie verstehen lassen, um zu verhindern, dass sie das Geschehene vergessen.
Trotz anderer weltpolitischer Probleme hielt Remarque selbst in den 1960ern an seinen antifaschistischen und antitotalitären Exil-Themen fest. Durch sorgfältige Gestaltung und eine aufrüttelnde Sprache versucht er über die Unfähigkeit sich zu erinnern aufzuklären und vor dem Vergessen zu warnen. Und mit diesem Protest lag er selbst in den 1960ern noch genau richtig, was Verkaufszahlen und Kritiken weltweit bestätigen. 1964 wurde die Übersetzung des Romans in den USA enthusiastisch aufgenommen und hoch gelobt. Die Kritiker beschrieben den Roman als historisch vollständig und künstlerisch gestaltet. Auch in Deutschland sorgte Die Nacht von Lissabon für Begeisterung, die für die enorme Gesamtauflage von 880.000 Exemplaren im Jahre 1968 sorgte. Der Erfolg des Romans bestätigte also über zwei Jahrzehnte nach Kriegsende die Aktualität der Thematik und macht deutlich, dass auch heute noch an das Vergessen erinnert werden muss.

Maren Koch
 
 

Weiterführende Literatur

Studien und wissenschaftliche Arbeiten (chronologisch)

 

Richard A. Firda. Erich Maria Remarque. A thematic analysis of his novels. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1988 (American University Studies XIX, 8), 225–260.

Tilman Westphalen. »Zurück kann man nie«. Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1988 (KiWi 151), 313–325.

Tilman Westphalen. »Zurück kann man nie«. Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 471), 313–330.

Florence Drouhot. Die Technik des Romans in »Die Nacht von Lissabon« von Erich Maria Remarque. Dijon: Université de Dijon [Magisterarbeit], 1991, [masch.] 100 pp.

Hans Wagener. Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, SC: University of South Carolina Press, 1991 (Understanding Modern European and Latin American Literature), 100–106.

Heinrich Placke. »Nazizeit, Exil und Krieg in E.M. Remarques Roman Die Nacht von Lissabon (1961) – das Sich-Erinnern und Aussprechen«. Ursula Heukenkamp (ed.). Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961). Amsterdam: Rodopi, 2001 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 50), 91–102.

T.I. Venslavovich. »O putiakh peredachi iazykovoj obraznosti v perevode romana E.M. Remarka ›Noch’ v Lissabone‹«. Idei, Gipotezy, Poisk... (Magadan) VIII (2001), 3–5.

Sigrid C. Albert. »Erich Maria Remarque: Die Nacht von Lissabon in lateinischer Übersetzung«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 13 (2003), 93–94.

Katrin Schaaf, Cornelia Wenning. »Die Nacht von Lissabon. Eine Unterrichtsreihe zu dem Roman in Klasse 12«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 15 (2005), 63–82.

E.V. Terekhova. Erikh Mariia Remark. Noch’ v Lissabone. Ucheb.-metod. posobie po domashnemu ucheniiu dlia studentov vuzov, obuchaiushchikhsia po spets. Moskva: Kom­paniia Sputnik, 2005, 54 pp.

Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, 129–158.

Lioba Meyer. »›Mein Leben geht ganz daneben‹ – Angst und Verzweiflung in den Romanen ›Transit‹ von Anna Seghers und ›Die Nacht von Lissabon‹ von Erich Maria Remarque. Zur Vermittlung beider Romane im Unterricht«. Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft 20 (2011), 120–128.

Heinrich Placke. »Fluchtpunkt Marseille – das Elend der Réfugiés, dargestellt in den Romanen ›Transit‹ (1944) von Anna Seghers und ›Die Nacht von Lissabon‹ von Erich Maria Remarque«. Argonautenschiff 20 (2011), 151–170.

Charlton Payne. »Der Pass zwischen Dingwanderung und Identitätsübertragung in Remarques ›Die Nacht von Lissabon‹«. Exilforschung 31 (2013), 343–354.

Brygida Sobótka. »Die deutsche Emigration als Vertreter der ›Verlorenen Generation‹ in den Romanen von Erich Maria Remarque«. Studia niemcoznawcze 53 (2014), 425–433.

Lars Wilhelmer. »›Das Meer war Amerika‹: Die Nacht von Lissabon«. Lars Wilhelmer. Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld: transcript, 2015, 218–237.

Thomas F. Schneider. »Käfig aus goldenen Tränen. Zu Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon«. Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1577), 361–382.

 

Rezensionen

Walter G. Oschilewski. »Der berühmte Herr Remarque. Über den Autor unseres neuen Romans«. Berliner Stimme, 24.10.1964. [ R-A 7.4.009/002 ]