In Die Nacht von Lissabon, 1962
erschienen und sein vorletztes Buch, schildert Remarque das Gespräch zweier
Flüchtlinge vor dem Naziregime in einer Bar im Hafen von Lissabon vor dem
Hintergrund einer möglichen Schiffspassage in die rettenden USA.
Der namenlose Ich-Erzähler steht im Jahre
1942 nachts am Kai von Lissabon und starrt auf ein im Hafen liegendes Schiff.
Er will mit seiner Frau Ruth in das rettende Exil nach Amerika flüchten, hat
jedoch weder einen Pass noch das nötige Visum. Ein Fremder spricht ihn an und
bietet ihm zwei Schiffskarten und die nötigen Papiere. Dafür haben will er
nichts, nur seine Lebensgeschichte, die Geschichte eines
verfolgten Exilanten, will er dem Ich-Erzähler berichten.
Die ganze Nacht hindurch erzählt der Fremde, der eigentlich Osnabrücker ist,
aber mit dem Pass eines verstorbenen Wieners reist, seine Geschichte. Er hat
die Identität des Wieners Josef Schwarz angenommen und auf dessen Pass nur das
Foto, sowie das Geburtsjahr geändert. Mit Hilfe dieses Passes kehrt er 1939 vor
Ausbruch des Krieges in das Deutschland zurück, aus dem er 1933 vor den Nazis
geflohen ist.
Als gesuchter Exilant reist er trotz Lebensgefahr ein, um seine über alles
geliebte Frau Helen in Osnabrück wiederzusehen. Die Stadt und die Menschen
findet er nach seiner langen Abwesenheit verändert vor. Sie scheinen sich
regelrecht der Hypnose der Lautsprecher und der Zeitungen hinzugeben und
verschließen die Augen vor Leid und Misshandlung. Er schafft es jedoch, Helen
aus Nazi-Deutschland und aus ihrer faschistisch eingestellten Familie zu
befreien, und flieht mit ihr. Jedoch ist das Glück nicht von langer Dauer, denn
Helen ist schwer krebskrank und stirbt. Die Überfahrt nach Amerika erscheint
ihm damit sinnlos, so dass er die Karten an den Ich-Erzähler verschenkt.
Der namenlose Ich-Erzähler hört die ganze Nacht lang zu und übernimmt dann den
Pass des Wieners Josef Schwarz. Er nimmt ebenfalls die fremde Identität an und
reist mit seiner Frau Ruth in die USA aus. Nach dem Krieg kehrt er aus dem Exil
in das zerstörte Europa zurück, findet jedoch aufgrund seiner veränderten
Identität keine Heimat mehr vor. Das gesicherte Überleben durch den gefälschten
Pass ist so wertvoll, dass der Namenlose ihn noch an einen weiteren Träger
übergibt. Der vierte Josef Schwarz ist Russe und über die Grenze nach
Deutschland geflohen. Er steht somit für eine neue Flüchtlingswelle und dadurch
für die ewige Fortführung des namenlosen Exil-Schicksals.
Das Schiff war ein
Passagierdampfer, der beladen wurde. Ich wußte, daß es am nächsten Abend abgehen sollte. Im harten Schein
der nackten elektrischen Birnen wurden Ladungen von Fleisch, Fisch, Konserven,
Brot und Gemüse verstaut; Arbeiter schleppten Gepäck an Bord, und ein Kran
schwang Kisten und Ballen so lautlos herauf, als wären sie ohne Gewicht. Das
Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut. Es
war eine Arche. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942
Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg
täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit langem überschwemmt und
stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris
waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und
auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht
geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr
bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das Gelobte Land Amerika nicht
erreichen konnte, war verloren. Er mußte verbluten im
Gestrüpp der verweigerten Ein-und Ausreisevisen, der
unerreichbaren Arbeits-und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der
Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen
Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Einzelnen, die stets die Folge von
Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein
gültiger Paß alles. (Kapitel
I)
Ich
ging durch die am wenigsten belebten Straßen zum Dom. Es war nicht weit. In der
Krahnstraße kam eine Kompanie marschierender Soldaten
an mir vorbei. Sie sangen ein Lied, das ich nicht kannte. Auf dem Domplatz sah
ich wieder Soldaten. Etwas weiter fort, vor den drei Kreuzen der Kleinen Kirche
standen etwa zwei-oder dreihundert Personen dicht beieinander. Fast alle waren in
Parteiuniform. Ich hörte eine Stimme und suchte nach dem Redner, aber ich fand
keinen. Nach einer Weile entdeckte ich auf einem Podium
einen schwarzen Lautsprecher. Er stand dort, beleuchtet, kahl und allein, ein
Automat, und schrie über das Recht der Wiedereroberung allen deutschen Bodens,
das größere Deutschland, Rache und die Tatsache, daß
der Frieden der Welt gesichert sei, wenn die Welt das täte, was Deutschland
wolle, und das sei das Recht.
Es war wieder windig
geworden, und die schwankenden Zweige warfen ihre unruhigen Schatten über die
Gesichter, die schreiende Maschine und die stillen Steinskulpturen auf der
Kirchenwand dahinter: Christus und die beiden Schächer am Kreuze. Die Gesichter
der Zuhörer waren gesammelt und verklärt. Sie glaubten, was der Automat ihnen
zuschrie, und es war bezeichnend für die sonderbare Hypnose, die hier vorging, daß sie ihm, der sie nicht hören oder sehen konnte, zuklatschten, als sei er ein Mensch. Es schien mir auch
bezeichnend zu sein für die leere, finstere Besessenheit unserer Zeit, die voll
Furcht und Hysterie Schlagworten folgt, ganz gleich, ob jemand von rechts oder
von links sie schreit, wenn er der Masse nur das lästige Denken und die
Verantwortung abnimmt, für das einstehen zu müssen, was sie fürchtet und dem
sie nicht ausweicht. (Kapitel IV)
Nach dem Kriege ging ich nach
Europa zurück. Es machte einige Schwierigkeiten, meine Identität zu etablieren
– denn zur selben Zeit gab es Hunderte von Herrenmenschen in Deutschland, die
die ihre zu verlieren suchten. Den Paß der beiden
Schwarz schenkte ich einem Russen, der über die Grenze geflohen war – eine neue
Welle von Emigranten hatte begonnen, sich zu formen. Weiß Gott, wo er
inzwischen geblieben ist! Von Schwarz habe ich nie wieder etwas gehört. Ich
fuhr sogar einmal nach Osnabrück und fragte nach ihm, obschon ich seinen
wirklichen Namen vergessen hatte. Aber die Stadt war verwüstet, niemand wußte etwas von ihm, und niemand interessierte sich dafür.
Auf dem Wege zurück zum Bahnhof glaubte ich, ihn zu erkennen. Ich lief ihm
nach; aber es war ein verheirateter Postsekretär, der mir erzählte, daß er Jansen hieße und drei Kinder habe. (Kapitel XVIII)
Der 1962 veröffentlichte Roman Die Nacht
von Lissabon steht an dritter Stelle einer Tetralogie von Exil-Romanen
Remarques. Nach Liebe
Deinen Nächsten (1941) und Arc de Triomphe (1946) erschien Die Nacht von Lissabon,
und die Reihe wurde schließlich beendet durch den 1971 postum veröffentlichten
Roman Schatten im Paradies. Die vier Romane erfassen zusammen die
gesamte Zeit von 1933 bis hin zu den letzten Kriegsjahren. Während 1933 in Liebe Deinen Nächsten die
Exil-Schauplätze noch Wien, Prag, die Schweiz und Paris sind und für die
Figuren immer noch die Hoffnung auf einen Neubeginn in Mexiko besteht,
schildert Remarque in Arc de Triomphe schon die Internierung in
französische Lager 1939. Die zeitliche Folge wird eingehalten, und so umfasst Die
Nacht von Lissabon die Zeitspanne von 1939 bis 1942 und beschreibt die
verzweifelten Versuche der Exilanten in Europa, sich weiter von der Bedrohung
durch das Regime zu entfernen. Bei diesen Versuchen wird der Pass in Remarques
Roman zur zentralen Metapher für die Enthumanisierung des Einzelnen. Ohne Pass
sind die Charaktere niemand und so gut wie tot.
In Dialogform berichten die Figuren in Die Nacht von Lissabon von ihrer
durch das Exil zerstörten Identität und erzählen damit die reale und
persönliche Geschichte Remarques. Sie ergänzen sich in ihren Äußerungen über
die Erinnerungen, das Festhalten, die Vergänglichkeit und die Gespaltenheit
ihrer Person. An Gott und dem Sinn des Lebens zweifeln sie, doch die Liebe hat
sie in harten Zeiten stets überleben lassen.
Die Nacht von Lissabon ist also realer Tatsachenbericht und spannende Liebesgeschichte
zugleich. Der Roman beschreibt den Alptraum der Rückkehr aus dem Exil in ein
Land, in dem es keine Zukunft gibt. Remarque geht dabei ironisch und
sarkastisch gegen das Deutschtum vor. Er versucht Schicksale zu objektivieren,
um Mitleid beim Leser auszulösen und darüber ihren Verstand zu erreichen. Er
will sie verstehen lassen, um zu verhindern, dass sie das Geschehene vergessen.
Trotz anderer weltpolitischer Probleme hielt Remarque selbst in den 1960ern an
seinen antifaschistischen und antitotalitären Exil-Themen fest. Durch
sorgfältige Gestaltung und eine aufrüttelnde Sprache versucht er über die
Unfähigkeit sich zu erinnern aufzuklären und vor dem Vergessen zu warnen. Und
mit diesem Protest lag er selbst in den 1960ern noch genau richtig, was Verkaufszahlen
und Kritiken weltweit bestätigen. 1964 wurde die Übersetzung des Romans in den
USA enthusiastisch aufgenommen und hoch gelobt. Die Kritiker beschrieben den
Roman als historisch vollständig und künstlerisch gestaltet. Auch in
Deutschland sorgte Die Nacht von Lissabon
für Begeisterung, die für die enorme Gesamtauflage von 880.000 Exemplaren im
Jahre 1968 sorgte. Der Erfolg des Romans bestätigte also über zwei Jahrzehnte
nach Kriegsende die Aktualität der Thematik und macht deutlich, dass auch heute
noch an das Vergessen erinnert werden muss.
Maren
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Rezensionen
Walter G. Oschilewski.
»Der berühmte Herr Remarque. Über den Autor unseres neuen Romans«. Berliner
Stimme, 24.10.1964. [ R-A 7.4.009/002 ]