Der
Zyklus der Erzählungen Remarques, die sich inhaltlich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen,
entstand zwischen 1917 und 1934. Hierzu gehören folgende Texte, die sämtlich in
der aktuellen Ausgabe enthalten sind:
Die Straße erstreckt sich
weiß vor uns und steigt langsam an. Hinter den Wolken kommt der Mond rot und
traurig heraus. Allmählich wird er kleiner und heller, bis er silbern auf den
amerikanischen Friedhof vor Romagne scheint.
Vierzehntausend Kreuze schimmern in dem fahlen Licht. Vierzehntausend Kreuze in
Reihen hintereinander – die Augen brennen einem, so verblüffend gerade sind
sie, vertikal, diagonal. Unter jedem ein Grab. Auf jedem eine Inschrift:
Herbert C. Williams, 1. Leutnant, Chemische Kriegsführung, Connecticut, 13.
Sept. 1918 – Albert Peterson, 137. Inf., 35. Div.,
North Dakota, 28. Sept. 1918 – vierzehntausend – fünfundzwanzigtausend waren
es. Getötet bei dem Angriff auf Montfaucon, getötet
ein paar Wochen vor dem Frieden. Nur ein Friedhof für so viele. Überall, an
Hunderten von Orten, liegen die anderen, die weißen Holzkreuze der Franzosen,
die schwarzen der Deutschen.
Mitten unter den
vierzehntausend Kreuzen auf dem breiten Hauptweg geht, entfernt und klein, ein
einzelner Mann hin und her, hin und her. Das ist bedrückender, als wäre alles
still. Karl drängt weiter.
In
den Städten spielen Kinder auf den Plätzen. Um sie herum sind Geschäfte,
Häuser, Kirchhöfe, Zeitungen, Lärm, Schreie, Straßen, die Welt; aber sie
spielen weiter, in ihre schlichten Spiele versunken, spielen wie überall auf
der Welt.
»Kinder«, sagt Karl, und in
der Dunkelheit sieht man nicht,
was mit ihm los ist, »Kinder sind überall gleich,
nicht wahr – Kinder wissen noch von nichts –«
Und während ich
noch darüber nachdenke und einen Blick auf ihn werfe, dreht er sich zu mir um:
»Jetzt mal los, Mann – was stehen wir hier rum?« und
dreht den Kopf um und schaut den ganzen Rest der Reise angespannt aus dem
Fenster.
Remarques Kriegserzählungen haben mit der
Ausnahme von Jürgen Tamen,
die noch während des Krieges entstand, vor allem die Folgen des Krieges zum
Thema und schildern den Ersten Weltkrieg aus der Nachkriegsperspektive. Nicht
die eigentlichen Kampfhandlungen und Kriegsgeschehnisse stehen im Vordergrund
der Erzählungen, sondern die Kriegsfolgen, die Schäden und Verwüstungen, die
der Krieg der Landschaft (in Schweigen um Verdun) und vor allem den
Menschen sowohl an der Front als auch in der Heimat zugefügt hat. Remarque
setzte mit den Erzählungen die Intention von Im Westen nichts Neues fort, das der Autor
selbst »eher als ein Nachkriegsbuch« ansah denn als ein Kriegsbuch.
Remarque schrieb Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück wie auch diese Erzählungen im
Sinne einer Gegen-Erinnerung zur marktbeherrschenden, kriegsbejahenden
Schilderung des Krieges aus der Perspektive der Offiziere und Nationalisten;
einer Gegen-Erinnerung aus der Perspektive der »Generation, die durch den Krieg
zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam«. Remarque wollte kein »Kriegsbuch«
schreiben, als welches Im Westen nichts Neues heute noch gilt, sondern
sich auf den »rein menschlichen Aspekt der Kriegserfahrung« beschränken.
Die Erzählung Jürgen Tamen
entstand 1917/18 noch im Duisburger Lazarett und kennzeichnet Remarques,
Bemühen, sich schriftstellerisch mit dem Krieg auseinander zu setzen. Mit Der junge Lehrer von 1920 verarbeitete
Remarque seine eigenen Erfahrungen als Lehrer. Dies beiden Texte gehören somit
zur Frühphase des Werkes in der Remarque vor allem ein Autor von Kurzprosa und Lyrik
war, die er in Zeitschriften und Zeitungen publizierte. Seit Im Westen nichts Neues und dem
unmittelbar nach dem Vorabdruck in der Vossischen
Zeitung im November und Dezember 1928 einsetzenden Erfolg wurden von
Remarque mit wenigen Ausnahmen jedoch keine kurzen Texte mehr veröffentlicht.
In mehreren Interviews und privaten Äußerungen betonte Remarque in der
Folgezeit, er wolle den überragenden Verkaufserfolg von Im Westen nichts Neues nicht kommerziell durch weitere schnell
gefertigte Veröffentlichungen ›ausschlachten‹. Remarque hatte es wohl auch
finanziell nicht mehr nötig, sein Einkommen durch weitere Publikationen
aufzubessern. Die Publikation der Kriegserzählungen ist somit zwar eine
Fortsetzung der schriftstellerischen Tätigkeit Remarques aus der Zeit vor Im
Westen nichts Neues, nach den erhaltenen Unterlagen jedoch allein auf die
vertragliche Situation zu dem Folgeroman Der Weg zurück (1930) zurückzuführen.
Wie dieser Roman erschienen die Erzählungen in den Jahren 1930 bis 1934 weltweit
vorrangig in Zeitungen und Zeitschriften. Bislang bekannt sind
Veröffentlichungen in Neue Freie Presse (Wien),
Daily Mail (London), Collier’s (Springfield/Ohio), Red Book (New York), Nieuw Rotterdamsche Courier (Rotterdam), Correio da Manha (Rio de Janeiro) und Para Usted
(Mexico City).
Die Kriegserzählungen gerieten nach ihrer Publikation weitgehend in
Vergessenheit, weil keine Buchveröffentlichung erfolgte. Es fehlen daher Leserreaktionen
oder Kritiken. Auch die Literaturwissenschaft hat mit Ausnahme einer
bibliographischen Erwähnung die vermutlich zu versteckt veröffentlichten
Erzählungen nicht zur Kenntnis genommen. Der ersten Buchpublikation im Jahre
1993 folgten sehr schnell Übersetzungen u.a. ins Russische, Polnische, Französische,
Italienische, Ungarische und Norwegische. Die Erzählungen zählen heute
zum anerkannten Werk Remarques als eine bedeutende Ergänzung zur bekannten und
vieldiskutierten Schilderung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen in Im
Westen nichts Neues und Der Weg zurück.
Studien
Thomas
F. Schneider. »Nachwort. Versteckt und vergessen. Erich Maria Remarques
Nachkriegserzählungen über den Ersten Weltkrieg«. Erich Maria Remarque. Der Feind. Erzählungen. Herausgegeben
und mit einem Nachwort von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1993, 63–76.
Thomas F. Schneider. »Nachwort. Versteckt und vergessen. Erich Maria Remarques
Nachkriegserzählungen über den Ersten Weltkrieg«. Erich Maria Remarque. Der Feind. Erzählungen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer
& Witsch, 1998 (KiWi 496), 63–77.
Thomas
F. Schneider. »Nachwort. Versteckt und vergessen. Erich Maria Remarques
Nachkriegserzählungen über den Ersten Weltkrieg«. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues.
Der Feind. Ein Roman und sechs Erzählungen. Köln: Kiepenheuer
& Witsch, 2005 (KiWi 916), 281–296.
Jurij Varzonin. »Der Feind:
Liebe Deinen Nächsten – die Rhetorik eines Christen«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque. Leben, Werk und weltweite
Wirkung. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1998 (Schriften des Erich
Maria Remarque-Archivs 12), 91–97.
Cynthia
Reede, Erich Maria Remarque. De vijand. Verhalen. Antwerpen: Katholieke
Vlaamse Hogeschool
Antwerpen, 1998 (KVH. Afdeling Vertalers en Tolken) [Diss.], [masch.] 109 pp.
G. Scott Seeger. »Guilty of
Violence... by Reason of Humanity. Remarque’s Short Story ›The Enemy‹«. Will
Wright, Steven Kaplan (eds.). The Image of Violence
in Literature, Media, and Society. Vol. II. Pueblo/CO: Society for the
Interdisciplinary Study of Social Imagery, Colorado State University-Pueblo,
2007, 255–260.
Thomas
F. Schneider. »›Nur eines haben sie ausgelassen: Nie wieder‹. Erich Maria
Remarques Erzählungen über den Ersten Weltkrieg«. Erich Maria Remarque. Der Feind. Sämtliche Erzählungen zum Ersten
Weltkrieg. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas F.
Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi
1364), 105–127.
Rezensionen
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[Klaus Modick]. »Ein
Weltbürger aus Osnabrück [und Abdruck Schweigen um Verdun]«. Der Spiegel
(Hamburg) 47 (1993), Nr. 8 (22.02.1993), 198-210 [R-A 8.22.2.004].
»Erzählungen von Erich Maria Remarque
erstmals in Buchform«. dpa. 08.03.1993 [R-A 8.22.2.008].
Rudolf Walter Leonhardt. »Am besten nichts Neues.
'Der Feind' – Erzählungen von Erich Maria Remarque erstmals auf
deutsch«. Die Zeit (Hamburg), Nr. 12 (19.03.1993), 73 [R-A
8.22.2.020].
Joachim Kaiser. »Remarque ohne Feind-Bild.
Sechs frühe Novellen, in Originalsprache aber nicht original«. Süddeutsche
Zeitung (München), 20.03.1993 [R-A 8.22.2.022].
E. Berger. »Von den Folgen des Krieges im
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Zeitung (Dresden), 16.04.1993 [R-A 8.22.2.03].
Walter Gallasch. »Den
Granaten entkommen. Erich Maria Remarque: Geschichten einer zerstörten
Generation«. Nürnberger Nachrichten, 15./16.05.1993 [R-A 8.22.2.043].
Thomas Oberender.
»Folgen des Krieges. Sechs Remarque-Erzählungen erstmals in deutscher Sprache«.
Der Tagesspiegel (Berlin), 08.08.1993 [R-A 8.22.2.071].