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Der Himmel kennt keine Günstlinge

Roman

 

Erstdruck: Erich Maria Remarque. »Geborgtes Leben. Roman einer Liebe«. Kristall (Hamburg) 14 (1959), Nrr. 15 – 26.

Erstausgabe: Erikh Marija Remark. Zhiznvzajmy. Istoria odnoj liubvi. Roman. Tr.: Ljudmila Chernaja. Moskva: Inostr lit, 1960.

Deutschsprachige Erstausgabe: Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Roman. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1961.

Aktuelle Ausgabe: Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1633).

 

 


Inhalt

Ende der 1940er Jahre besucht der alternde Rennfahrer Clerfayt seinen ehemaligen Beifahrer Hollmann in einem Sanatorium, in dem er seit längerer Zeit wegen Lungentuberkulose behandelt wird. Dort lernt Clerfayt auch die schwer lungenkranke Lilian Dunkerque kennen. Sie verachtet die seit Jahren gleiche Routine, die Langeweile und die strengen Regeln des Sanatoriums und nutzt die Gelegenheit, um gegen den Rat ihrer Ärzte mit Clerfayt zu flüchten.
Die beiden haben eines gemeinsam, und zwar die Tatsache, dass sie keine sichere Zukunft haben. Clerfayt lebt sein Leben immer nur bis zum nächsten Rennen, entgeht immer wieder dem nahen Tod und Lilians Dasein ist ständig bedroht durch einen erneuten Blutsturz. Sie sieht in ihm den passenden Partner, weil auch er stets nah am Tode steht. Die Melancholie über die Möglichkeit der plötzlichen Trennung lässt ihre Romanze sehr intensiv werden. Beide verdrängen die Todes-Thematik und leben einen romantischen Traum in Paris. Voller Leichtigkeit, als könne ihnen nichts geschehen, genießen sie ihr Glück und geben sich ihren Illusionen hin.
Auf Sizilien, wo Clerfayt ein Rennen zu fahren hat, umsorgt er die kranke Lilian so sehr, dass sie sich eingesperrt und an die Zustände des Sanatoriums erinnert fühlt. Sie verfolgt das Rennen am Radio und merkt, dass sie dem Autosport nichts abgewinnen kann. Lilian versteht den Sinn des Rennens, mit Start und Ziel an der selben Stelle, nicht und zweifelt daran, dass dieses Spiel mit dem Tod sinnvoll ist.
Sie reist heimlich allein nach Venedig, wo sie erneut eine Lungenblutung erleidet. Erst dann erkennt Clerfayt die ganze Schwere ihrer Krankheit. Auch aus diesem Grund beginnt er Pläne zu schmieden. Er spricht davon das Renngeschäft aufzugeben, zu heiraten und sesshaft zu werden. Doch Lilian liebte ja gerade den Mann ohne Pläne und ohne Zukunft, der sie durch seine Liebe den Tod vergessen ließ. Sein Wandel entfernt sie geistig weiter von ihm, so dass sie sich entschließt, sich nach seinem nächsten Rennen in Monte Carlo von ihm zu trennen. Dazu kommt es jedoch nicht mehr, denn Clerfayt stirbt während des Rennens bei einem tragischen Unfall. Daraufhin kehrt Lilian in das Schweizer Sanatorium zurück und stirbt nur sechs Wochen später an ihrer schweren Erkrankung.
 

 

Auszüge

Sie ging die nassen Straßen entlang. Es hatte geregnet, während sie bei Gaston gewesen war, aber jetzt schien die Sonne wieder und spiegelte sich auf dem Asphalt und in den Pfützen am Rande der Straße. Sogar in den Pfützen spiegelt sich der Himmel, dachte sie und mußte lachen. Vielleicht spiegelte Gott sich dann auch sogar in Onkel Gaston. Aber wo in ihm? Er war schwerer zu finden in Gaston als das Blau und das Glitzern des Himmels in dem schmutzigen Wasser, das zu den Kanallöchern abfloss. Er war schwerer zu finden in den meisten Menschen, die sie kannte. Sie hockten in ihren Büros hinter ihren Schreibtischen, als wären sie doppelte Methusalems, das war ihr trostloses Geheimnis! Sie lebten, als gäbe es keinen Tod. Aber sie taten es wie Krämer, nicht wie Helden. Sie hatten das tragische Wissen um das Ende verdrängt und spielten Vogel Strauß und kleinbürgerliche Illusion vom Ewigen Leben. Mit wackelnden Köpfen versuchten sie sich am Grabe gegenseitig noch zu betrügen und das aufzuhäufen, was sie am frühesten zu Sklaven ihrer selbst gemacht hatte: Geld und Macht.

Sie nahm einen Hundertfrancs-Schein, betrachtete ihn und warf ihn mit einem Entschluß in die Seine. Es war eine sehr kindisch-symbolische Handlung des Pro­testes, aber das war ihr gleich. Es tat ihr gut, es zu tun. Den Scheck Onkel Gastons warf sie ohnehin nicht weg. Sie ging weiter und kam zum Boulevard St.-Michel. Der Verkehr toste um sie herum. Menschen rannten, drängten sich, hatten es eilig, die Sonne blitzte auf Hunderten von Automobildächern, Motoren tobten, überall gab es Ziele, die so rasch wie möglich erreicht werden mußten, und jedes dieser kleinen Ziele verdeckte das letzte so sehr, daß es schien, als wäre es gar nicht da. (Kapitel XV)

 

Sie saß lang still. Dann drehte sie die Knöpfe des Radios; es war die Zeit der Nachrichten. Rom stürzte herein mit einem Schwall von Lärm, mit Namen, bekannten, unbekannten Orten, Städten, Mantua, Ravenna, Bologna, Aquila, mit Stunden, Minuten, mit der aufgeregten Stimme des Ansagers, der gewonnene Minuten behandelte, als wären sie der Heilige Gral, der Defekte an Wasserpumpen, festgefressene Kolben, zerbrochene Benzinleitungen beschrieb, als beschriebe er Weltunglücke, und der wie einen Sturm das Rennen nach der Zeit hereinjagte in das halbdunkle Zimmer, das Rasen um Sekunden, nicht um Sekunden Leben, sondern um auf einer nassen Straße mit zehntausend Kurven und einer schreienden Menge ein paar hundert Meter früher an einem Ort zu sein, den man sofort wieder verließ, ein Rasen, als wäre die Atombombe hinter einem her.

Warum verstehe ich es nicht? dachte Lillian. Warum spüre ich nichts von dem Rausch der Millionen Menschen, die an diesem Abend und in dieser Nacht die Chausseen Italiens säumen? Sollte ich es nicht stärker fühlen? Ist nicht mein eigenes Leben ähnlich? Ein Rennen, um so viel an sich zu reißen, wie man kann, ein Jagen nach dem Phantom, das vor einem herschießt wie der künstliche Hase vor der Meute beim Windhundrennen?

»Florenz«, meldete die Stimme am Radio triumphierend und begann Zeiten aufzuzählen, Namen wieder und Automarken, Durchschnittsgeschwindigkeiten und Höchstgeschwindigkeiten, und dann voller Stolz: »Wenn die führenden Wagen so weiterfahren, werden sie in neuer Rekordzeit wieder in Brescia sein

Lillian stutzte. In Brescia, dachte sie. Zurück in der kleinen Provinzstadt mit Garagen, Cafés und Läden, von der sie aufgebrochen waren. Sie spielten mit dem Tode, sie tobten durch die Nacht, sie fielen der entsetzlichen Müdigkeit des frühen Morgens anheim mit starren, maskengleichen, vom Dreck verkrusteten Gesichtern, sie rasten weiter, weiter, als ginge es um das Größte der Welt, – alles nur, um wieder in die kleine Provinzstadt zurückzukehren, von der sie gekommen waren! Von Brescia nach Brescia!

Sie stellte das Radio ab und ging zum Fenster. Von Brescia nach Brescia! Gab es ein stärkeres Symbol der Sinnlosigkeit? Hatte das Leben ihnen dazu Wunder wie gesunde Lungen und Herzen geschenkt, unbegreifliche chemische Fabriken wie die Leber und die Nieren, eine weiße, weiche Masse im Schädel, die phantastischer war als sämtliche Sternsysteme, alles das, um es zu riskieren und, wenn sie Glück hatten, von Brescia nach Brescia zu kommen? Welch entsetzliche Narrheit! (Kapitel XVII)

 

Kontext / Analyse

Erich Maria Remarques Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge wurde im Sommer 1959 erstmals als Fortsetzungsroman in der Illustrierten Kristall veröffentlicht. Er trug damals den Titel Geborgtes Leben und erschien in zwölf Folgen. Schon am 17. Juli 1959 warben Die Welt und Bild mit ganzseitigen Anzeigen für den Abdruck von Geborgtes Leben. Roman einer Liebe. Dazu verwendeten sie den angeblich von Remarque gemachten Ausspruch »Ich glaube, dass dieser Roman eines meiner Hauptwerke wird« und verbreiteten ihn verkaufsfördernd.
Die erste Buchfassung erschien 1961 bei Kiepenheuer&Witsch und weist umfassende Veränderungen des Autors auf. Die Buchversion ist deutlich länger und wurde nochmals von Remarque sprachlich überarbeitet. Das Thema, die Handlung und die eingesetzten Figuren bleiben jedoch bestehen. Die amerikanische Übersetzung Heaven has no favorites erschien ebenfalls 1961. Die Verfilmung in den USA ließ jedoch noch bis 1977 auf sich warten. Unter dem Titel Bobby Deerfield verfilmte Columbia Pictures damals die Romanvorlage unter der Regie von Sidney Pollack und mit Al Pacino und Marthe Keller in den Hauptrollen. Jedoch hat der Film mit Remarques Roman nicht sehr viel gemein und wurde trotz Star-Besetzung ein Flop.
Der Verkaufserfolg des Romans war in Deutschland groß, jedoch hagelte es negative Kritiken. Diese kamen zumeist von den angesehensten Kritikern des Landes, so dass es schon als Qualitätsurteil zu werten ist, dass sie sich mit Remarques Roman auseinandergesetzt haben. Sie bemängelten vor allem den schwachen Stil, die überzogene Sentimentalität und warfen Remarque vor, er habe Der Himmel kennt keine Günstlinge schon gleich als Drehbuch geschrieben. Jedoch räumten sie ein, dass das Werk durchaus packend und spannend zu lesen sei und man es nicht so schnell wieder aus der Hand lege.
Auch in den USA wurde der Roman positiv aufgenommen, weniger wegen seiner literarischen Qualität, sondern vielmehr weil er das Bild bedient, das die Amerikaner von Europa haben. So bespricht Remarque in seinem Roman wenig die deutsche Zeitgeschichte, sondern widmet sich anderen Themenbereichen. Er greift zurück auf die Frühphase seiner Literatur, und zwar geht er zurück bis in die 20er Jahre und bis vor das Erscheinen von Im Westen nichts Neues. In seinem damaligen Stil und mit damaligen Handlungssträngen als Leitmotiv verfasste er Der Himmel kennt keine Günstlinge.
Remarques erstes Interesse an Autorennen wurde 1922 geweckt, als er begann, für das Werbeblatt Echo-Continental der Continental-Gummiwerke in Hannover zu arbeiten. Schon 1924 tauchten die in Der Himmel kennt keine Günstlinge beschriebenen Personen in einer Kurzgeschichte mit dem Titel Das Rennen Vanderveldes auf. Diese Geschichte wurde in Sport im Bild, der »Zeitschrift für die gute Gesellschaft« veröffentlicht. In ihr wurde die Figur Lilian zum Leben erweckt, jedoch damals als mondäne Society-Frau und ohne ein Lungenleiden. Ihr Partner in der Geschichte heißt zwar Vandervelde, entspricht jedoch sehr dem Männertyp von Clerfayt. Ihren zweiten Einsatz fand Lilian 1927/28 in dem Fortsetzungsroman Station am Horizont, der ebenfalls in Sport im Bild erschien. Ihr Partner heißt in dieser Geschichte zwar Kai, ähnelt aber trotzdem wieder sehr dem Rennfahrer Clerfayt.
Durch Wideraufnahme der Figuren und der Handlungsstränge in Der Himmel kennt keine Günstlinge erscheint es, als habe Remarque eine Zeitreise zu seinen literarischen Wurzeln gemacht. Er beschreibt wie damals die mondäne Welt des Autosports, die eleganten Menschen, die dieses Milieu anzieht, und vermischt den Society-Bericht mit tiefgründiger Lebensphilosophie. Ironie, Übertreibung und dunkler, ja fast depressiver Hintergrund ergänzen sich zu seinen Werken dieser Kategorie. Und so schafft er es meisterlich Liebe, Weltanschauung, Lebens- und Todesphilosophie trotz des oberflächlich wirkenden Milieus zu verbinden.

Maren Koch

 

Weiterführende Literatur

Studien und wissenschaftliche Arbeiten (chronologisch)

 

Christine R. Barker, Rex W. Last. Erich Maria Remarque. London: Oswald Wolff; New York: Barnes & Nobles, 1979, 69–109.

Richard A. Firda. Erich Maria Remarque. A thematic analysis of his novels. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1988 (American University Studies XIX, 8), 225–260.

Harley U. Taylor. Erich Maria Remarque. A literary and film biography. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris: Peter Lang, 1989 (American University Studies I, 65), 229–238.

Tilman Westphalen. »Nachwort. Von Brescia nach Brescia«. Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1990 (KiWi 210), 319–334.

Tilman Westphalen. »Von Brescia nach Brescia«. Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 490), 319–336.

Hans Wagener. Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, SC: University of South Carolina Press, 1991 (Understanding Modern European and Latin American Literature), 92–99.

Daina Frąckowiak. Erich Maria Remarques Kritik in Deutschland und in Polen am Beispiel der Romane der 50. und 60. Jahre. Bydgoszcz: Universität [Magisterarbeit], 1998, [masch.] 35–50.

Nanda Fischer. »The Eternal Player of ›From Bescia to Brescia‹. E. M. Remarque’s Novels on Car Racing«. Aethlon: The Journal of Sport Literature 17 (2000), 117–126.

Werner Fuld. »Ein Treffen mit alten Bekannten. Zur Vorgeschichte des Romans ›Der Himmel kennt keine Günstlinge‹«. Text + Kritik (2001), 149: Erich Maria Remarque, 65–68.

Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, 195–224.

Thomas F. Schneider. »Vor den Toren des Hades. Zu Erich Maria Remarques Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge«. Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1633), 420–441.