Ende der 1940er Jahre besucht der alternde
Rennfahrer Clerfayt seinen ehemaligen Beifahrer
Hollmann in einem Sanatorium, in dem er seit längerer Zeit wegen
Lungentuberkulose behandelt wird. Dort lernt Clerfayt
auch die schwer lungenkranke Lilian Dunkerque kennen.
Sie verachtet die seit Jahren gleiche Routine, die Langeweile und die strengen
Regeln des Sanatoriums und nutzt die Gelegenheit, um gegen den Rat ihrer Ärzte
mit Clerfayt zu flüchten.
Die beiden haben eines gemeinsam, und zwar die Tatsache, dass sie keine sichere
Zukunft haben. Clerfayt lebt sein Leben immer nur bis
zum nächsten Rennen, entgeht immer wieder dem nahen Tod und Lilians Dasein ist
ständig bedroht durch einen erneuten Blutsturz. Sie sieht in ihm den passenden
Partner, weil auch er stets nah am Tode steht. Die Melancholie über die
Möglichkeit der plötzlichen Trennung lässt ihre Romanze sehr intensiv werden.
Beide verdrängen die Todes-Thematik und leben einen romantischen Traum in
Paris. Voller Leichtigkeit, als könne ihnen nichts geschehen, genießen sie ihr
Glück und geben sich ihren Illusionen hin.
Auf Sizilien, wo Clerfayt ein Rennen zu fahren hat,
umsorgt er die kranke Lilian so sehr, dass sie sich eingesperrt und an die
Zustände des Sanatoriums erinnert fühlt. Sie verfolgt das Rennen am Radio und
merkt, dass sie dem Autosport nichts abgewinnen kann. Lilian versteht den Sinn
des Rennens, mit Start und Ziel an der
selben Stelle, nicht und zweifelt daran, dass dieses Spiel mit
dem Tod sinnvoll ist.
Sie reist heimlich allein nach Venedig, wo sie erneut eine Lungenblutung
erleidet. Erst dann erkennt Clerfayt die ganze
Schwere ihrer Krankheit. Auch aus diesem Grund beginnt er Pläne zu schmieden.
Er spricht davon das Renngeschäft aufzugeben, zu heiraten und sesshaft zu
werden. Doch Lilian liebte ja gerade den Mann ohne Pläne und ohne Zukunft, der
sie durch seine Liebe den Tod vergessen ließ. Sein Wandel entfernt sie geistig
weiter von ihm, so dass sie sich entschließt, sich nach seinem nächsten Rennen
in Monte Carlo von ihm zu trennen. Dazu kommt es jedoch nicht mehr, denn Clerfayt stirbt während des Rennens bei einem tragischen
Unfall. Daraufhin kehrt Lilian in das Schweizer Sanatorium zurück und stirbt
nur sechs Wochen später an ihrer schweren Erkrankung.
Sie
ging die nassen Straßen entlang. Es hatte geregnet, während sie bei Gaston
gewesen war, aber jetzt schien die Sonne wieder und spiegelte sich auf dem
Asphalt und in den Pfützen am Rande der Straße. Sogar in den Pfützen spiegelt
sich der Himmel, dachte sie und mußte lachen.
Vielleicht spiegelte Gott sich dann auch sogar in Onkel Gaston. Aber wo in ihm?
Er war schwerer zu finden in Gaston als das Blau und das Glitzern des Himmels
in dem schmutzigen Wasser, das zu den Kanallöchern abfloss. Er war schwerer zu
finden in den meisten Menschen, die sie kannte. Sie hockten in ihren Büros
hinter ihren Schreibtischen, als wären sie doppelte Methusalems, das war ihr
trostloses Geheimnis! Sie lebten, als gäbe es keinen Tod. Aber sie taten es wie
Krämer, nicht wie Helden. Sie hatten das tragische Wissen um das Ende verdrängt
und spielten Vogel Strauß und kleinbürgerliche Illusion vom Ewigen Leben. Mit
wackelnden Köpfen versuchten sie sich am Grabe gegenseitig noch zu betrügen und
das aufzuhäufen, was sie am frühesten zu Sklaven ihrer selbst gemacht hatte:
Geld und Macht.
Sie
nahm einen Hundertfrancs-Schein, betrachtete ihn und warf ihn mit einem Entschluß in die Seine. Es war eine sehr kindisch-symbolische
Handlung des Protestes, aber das war ihr gleich. Es tat ihr gut, es zu tun.
Den Scheck Onkel Gastons warf sie ohnehin nicht weg. Sie ging weiter und kam
zum Boulevard St.-Michel. Der Verkehr toste um sie herum. Menschen rannten,
drängten sich,
hatten es eilig, die Sonne blitzte auf Hunderten von Automobildächern, Motoren
tobten, überall gab es Ziele, die so rasch wie möglich erreicht werden mußten, und jedes dieser kleinen Ziele verdeckte das letzte
so sehr, daß es schien, als wäre es gar nicht da.
(Kapitel XV)
Sie saß lang still. Dann
drehte sie die Knöpfe des Radios; es war die Zeit der Nachrichten. Rom stürzte herein mit einem Schwall von Lärm, mit Namen,
bekannten, unbekannten Orten, Städten, Mantua, Ravenna, Bologna, Aquila, mit Stunden, Minuten, mit der aufgeregten Stimme
des Ansagers, der gewonnene Minuten behandelte, als wären sie der Heilige Gral,
der Defekte an Wasserpumpen, festgefressene Kolben, zerbrochene Benzinleitungen
beschrieb, als beschriebe er Weltunglücke, und der wie einen Sturm das Rennen
nach der Zeit hereinjagte in das halbdunkle Zimmer, das Rasen um Sekunden,
nicht um Sekunden Leben, sondern um auf einer nassen Straße mit zehntausend
Kurven und einer schreienden Menge ein paar hundert Meter früher an einem Ort
zu sein, den man sofort wieder verließ, ein Rasen, als wäre die Atombombe
hinter einem her.
Warum verstehe ich es nicht?
dachte Lillian. Warum spüre ich nichts von dem Rausch
der Millionen Menschen, die an diesem Abend und in dieser Nacht die Chausseen
Italiens säumen? Sollte ich es nicht stärker fühlen? Ist nicht mein eigenes
Leben ähnlich? Ein Rennen, um so viel an sich zu reißen, wie man kann, ein
Jagen nach dem Phantom, das vor einem herschießt wie
der künstliche Hase vor der Meute beim Windhundrennen?
»Florenz«,
meldete die Stimme am Radio triumphierend und begann Zeiten aufzuzählen, Namen
wieder und Automarken, Durchschnittsgeschwindigkeiten und Höchstgeschwindigkeiten,
und dann voller Stolz: »Wenn die führenden Wagen so weiterfahren, werden sie in
neuer Rekordzeit wieder in Brescia sein!«
Lillian
stutzte. In Brescia, dachte sie. Zurück in der kleinen Provinzstadt mit
Garagen, Cafés und Läden, von der sie aufgebrochen waren. Sie spielten mit dem
Tode, sie tobten durch die Nacht, sie fielen der entsetzlichen Müdigkeit des
frühen Morgens anheim mit starren, maskengleichen, vom Dreck verkrusteten
Gesichtern, sie rasten weiter, weiter, als ginge es um das Größte der Welt, –
alles nur, um wieder in die kleine Provinzstadt zurückzukehren, von der sie
gekommen waren! Von Brescia nach Brescia!
Sie
stellte das Radio ab und ging zum Fenster. Von Brescia nach Brescia! Gab es ein
stärkeres Symbol der Sinnlosigkeit? Hatte das Leben ihnen dazu Wunder wie
gesunde Lungen und Herzen geschenkt, unbegreifliche chemische Fabriken wie die
Leber und die Nieren, eine weiße, weiche Masse im Schädel, die phantastischer
war als sämtliche Sternsysteme, alles das, um es zu riskieren und, wenn sie
Glück hatten, von Brescia nach Brescia zu kommen? Welch
entsetzliche Narrheit! (Kapitel XVII)
Erich Maria Remarques Roman Der Himmel
kennt keine Günstlinge wurde im Sommer 1959 erstmals als Fortsetzungsroman
in der Illustrierten Kristall veröffentlicht. Er trug damals den Titel Geborgtes
Leben und erschien in zwölf Folgen. Schon am 17. Juli 1959 warben Die
Welt und Bild mit ganzseitigen Anzeigen für den Abdruck von Geborgtes
Leben. Roman einer Liebe. Dazu verwendeten sie den angeblich von Remarque
gemachten Ausspruch »Ich glaube, dass dieser Roman eines meiner Hauptwerke wird«
und verbreiteten ihn verkaufsfördernd.
Die erste Buchfassung erschien 1961 bei Kiepenheuer&Witsch
und weist umfassende Veränderungen des Autors auf. Die Buchversion ist deutlich
länger und wurde nochmals von Remarque sprachlich überarbeitet. Das Thema, die
Handlung und die eingesetzten Figuren bleiben jedoch bestehen. Die
amerikanische Übersetzung Heaven has no favorites erschien
ebenfalls 1961. Die Verfilmung in den USA ließ jedoch noch bis 1977 auf sich
warten. Unter dem Titel Bobby
Deerfield verfilmte Columbia Pictures
damals die Romanvorlage unter der Regie von Sidney Pollack und mit Al Pacino und
Marthe Keller in den Hauptrollen. Jedoch hat der Film mit Remarques Roman nicht
sehr viel gemein und wurde trotz Star-Besetzung ein Flop.
Der Verkaufserfolg des Romans war in Deutschland groß, jedoch hagelte es
negative Kritiken. Diese kamen zumeist von den angesehensten Kritikern des
Landes, so dass es schon als Qualitätsurteil zu werten ist, dass sie sich mit
Remarques Roman auseinandergesetzt haben. Sie bemängelten vor allem den
schwachen Stil, die überzogene Sentimentalität und warfen Remarque vor, er habe
Der Himmel kennt keine Günstlinge schon gleich als Drehbuch geschrieben.
Jedoch räumten sie ein, dass das Werk durchaus packend und spannend zu lesen
sei und man es nicht so schnell wieder aus der Hand lege.
Auch in den USA wurde der Roman positiv aufgenommen, weniger wegen seiner
literarischen Qualität, sondern vielmehr weil er das Bild bedient, das die
Amerikaner von Europa haben. So bespricht Remarque in seinem Roman wenig die
deutsche Zeitgeschichte, sondern widmet sich anderen Themenbereichen. Er greift
zurück auf die Frühphase seiner Literatur, und zwar geht er zurück bis in die
20er Jahre und bis vor das Erscheinen von Im Westen nichts Neues. In seinem damaligen
Stil und mit damaligen Handlungssträngen als Leitmotiv verfasste er Der
Himmel kennt keine Günstlinge.
Remarques erstes Interesse an Autorennen wurde 1922 geweckt, als er begann, für
das Werbeblatt Echo-Continental der Continental-Gummiwerke in Hannover
zu arbeiten. Schon 1924 tauchten die in Der Himmel kennt keine Günstlinge
beschriebenen Personen in einer Kurzgeschichte mit dem Titel Das Rennen Vanderveldes auf. Diese Geschichte wurde in Sport im
Bild, der »Zeitschrift für die gute Gesellschaft« veröffentlicht. In ihr
wurde die Figur Lilian zum Leben erweckt, jedoch damals als mondäne
Society-Frau und ohne ein Lungenleiden. Ihr Partner in der Geschichte heißt
zwar Vandervelde, entspricht jedoch sehr dem
Männertyp von Clerfayt. Ihren zweiten Einsatz fand
Lilian 1927/28 in dem Fortsetzungsroman Station am Horizont, der ebenfalls in Sport
im Bild erschien. Ihr Partner heißt in dieser Geschichte zwar Kai, ähnelt
aber trotzdem wieder sehr dem Rennfahrer Clerfayt.
Durch Wideraufnahme der Figuren und der Handlungsstränge in Der Himmel kennt
keine Günstlinge erscheint es, als habe Remarque eine Zeitreise zu seinen
literarischen Wurzeln gemacht. Er beschreibt wie damals die mondäne Welt des
Autosports, die eleganten Menschen, die dieses Milieu anzieht, und vermischt
den Society-Bericht mit tiefgründiger Lebensphilosophie. Ironie, Übertreibung
und dunkler, ja fast depressiver Hintergrund ergänzen sich zu seinen Werken
dieser Kategorie. Und so schafft er es meisterlich Liebe, Weltanschauung,
Lebens- und Todesphilosophie trotz des oberflächlich wirkenden Milieus zu
verbinden.
Maren
Koch
Studien und wissenschaftliche Arbeiten
(chronologisch)
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Thomas F. Schneider. »Vor den Toren des Hades. Zu
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Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch,
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