Remarque fertigt diese Schrift Ende
September / Anfang Oktober 1944 im Auftrag des Amerikanischen
Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services) und
formuliert seine Vorstellung einer Re-Education (»Rück-Erziehung«) der
Deutschen nach dem Krieg. Hierzu teilt er die deutsche Bevölkerung in drei
große Gruppen ein:
Für diese drei Gruppen skizziert Remarque
unterschiedliche Charakteristika hinsichtlich ihrer »Brauchbarkeit«, in
Deutschland die Demokratie wieder einzuführen und gegen Nationalsozialismus und
Militarismus/Nationalismus zu arbeiten.
Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg prognostiziert Remarque ein ähnliches
Verhalten der Verantwortlichen wie nach dem Ersten Weltkrieg, nämlich ein
Abstreiten jeglicher Verantwortung sowie den Versuch, wieder alte Posten zu
übernehmen. Einem solchen Verhalten gegenüber sei Vorsicht angebracht, und es
sei daher nicht nur wichtig, den Nationalsozialismus zu beseitigen, sondern
ebenso Nationalismus und Militarismus. Er schlägt daher eine umfassende
Aufklärung über sämtliche Nazi-Verbrechen vor. Der deutschen Bevölkerung müsse
gezeigt werden, dass – nicht nur – die Kriegsschuld eindeutig bei ihnen liege
und dass Hitler zudem über sein ursprüngliches Programm hinausgegangen sei.
Ein eigentlicher Veränderungsprozess könne nur von den Deutschen selbst
eingeleitet werden. Neben der Umerziehung spiele daher die Erziehung der
jüngeren Generationen zu einem demokratischen Bewusstsein eine entscheidende
Rolle. Es müsse sozusagen eine Umkehrung des Wertesystems stattfinden, indem Werte
wie Chauvinismus, Unterwürfigkeit und Kriegsverherrlichung durch Ideale wie
Humanität, Unabhängigkeit und Freiheit ersetzt werden. Feindbildabbau spiele
eine ebenfalls große Rolle, vor allem gegenüber den Alliierten, die nicht als
Besatzer sondern als Befreier anzusehen seien.
Remarque plädiert für eine neue demokratische Regierung, die über eigene Macht
verfügen müsse, um gegen innere Feinde vorgehen zu können. Von einer zunächst
gemäßigt diktatorischen Demokratie solle langfristig zu einer absoluten
Demokratie übergegangen werden.
Remarque formuliert mit der Forderung nach schonungsloser Aufklärung über die
Naziverbrechen und Warnung vor einer möglichen Wiedererstarkung nazistischer
Kräfte sein eigenes literarisch-politisches Programm
für die folgenden 12 Jahre. Seine ersten drei Nachkriegsromane Der Funke Leben
(1952), Zeit zu leben und
Zeit zu sterben (1954) und Der schwarze Obelisk (1956) sowie das
Theaterstück Die letzte
Station (1956) können im Sinne des Re-Educations-Programms
als Aufklärungs- und Warnungstexte verstanden werden. In ihnen werden die
Themenschwerpunkte aus Practical Educational Work wieder aufgegriffen.
Der KZ-Roman Der Funke Leben
behandelt von den Nazis begangene Gräueltaten in den Lagern, der Roman über den
Zweiten Weltkrieg Zeit zu leben und Zeit
zu sterben die Auswirkungen von Nationalismus und Militarismus auf Denken
und Handeln einfacher Menschen sowie die Frage nach der eigenen
Verantwortlichkeit, der Roman Der
schwarze Obelisk die politischen Versäumnisse nach dem Ersten Weltkrieg, Die letzte Station warnt u.a. vor einem
Fortbestand nationalistischer Kräfte und wirkt einem Feindbild gegen die
alliierten Russen entgegen.
Practical Educatinal Work
in Germany after the War zählt zu den wichtigen
Zeugnissen von Remarques politischer Tätigkeit, die im wesentlichen
nicht explizit und somit für die Öffentlichkeit nicht oder kaum einsehbar war,
was dazu führte, dass der Autor auch bis heute irrtümlich als unpolitisch gilt,
ungeachtet der Tatsache, dass fast alle seiner Romane sich mit so politischen
Themen wie Krieg, Nationalsozialismus, Verfolgung, Exil,
Menschenrechtsverletzung und Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzen.
It is important not to eliminate only, but to build up other ideals. The
ideal of democracy has much sense but little glamor, especially in Europe. Here
is a task of first order. Some ot the lines to
follow: To substitute the glory of wars with the glory of freedom; the heroes
of destruction with the heroes of science and construction; the ideal of
military obedience with the ideal of personal independence; the pride of a
soldier with the pride of personality; national chauvinism with national pride
to work for humanity. The myth of the Herrenrasse
must be destroyed, its nonsense explained and
ridiculed. [...]
It should be shown that if the
money which was spent for wars would have been spent instead for progress
civilization and humanity the world could be easily nearly a paradise.
Erich Maria
Remarque. Practical Educational Work in Germany after the War. 1944. Typoskript,
18 Seiten [R-C 1.248.001]
Erich Maria Remarque. »Praktische
Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque. Ein militanter
Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Köln: Kiepenheuer
& Witsch, 1994, 67–83.
Lothar Schwindt,
Detlef Vornkahl. »Erich Maria Remarques Engagement in
der amerikanischen Deutschlandpolitik gegen Ende des 2. Weltkrieges«. Mitteilungen
der Erich Maria Remarque Gesellschaft Osnabrück e.V. 2 (1987), 4–22.
Lothar Schwindt. »Geheimdienstarbeit. Remarques Schrift Practical Educational
Work in Germany after the War«. Tilman Westphalen (ed.). Erich
Maria Remarque 1898 – 1970. Bramsche:
Rasch, 1988, 65–78.
Heinrich Placke.
»Remarques Denkschrift Practical Educational Work in Germany after the War (1944) im Kontext zeitgenössischer Konzeptionen
für das nahende Nachkriegsdeutschland (Denkschrift und Tagebuch als
kontrastierende Gebrauchstextsorten)«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 12 (2002), 60–96.
Heinrich Placke, Uwe Zagratzki.
»Eine Denkschrift und ein Zeitungsbeitrag Remarques in politischen Debatten: Practical Educational Work in Germany after the War (1944) und Be
Vigilant! (1956) im Spannungsfeld divergierender
zeitgenössischer Positionen«. Joanna Jabłkowska,
Małgorzata Pólrola (eds.). Engagement. Debatten. Skandale. Deutschsprachige
Autoren als Zeitgenossen. Łódż: Wyd. Uniw. Łódżkiego,
2002, 321–340.