Das
gelobte Land variiert die Handlung des Romans Schatten im
Paradies und führt sie fort. Der deutsche
Emigrant Ludwig Sommer hat nach langem Exil
in Europa das »gelobte Land« USA erreicht. Hier findet er Kontakt zur
Emigrantenszene, arbeitet bei einem Antiquitätenhändler, dann bei einem
Kunsthändler und beginnt eine Beziehung mit dem Mannequin Maria Fiola. Am Leben gehalten wird Sommer durch das Ziel, nach Kriegsende
Deutschland zurückzukehren und den Mörder seines Vaters zu töten. Ob und in
welcher Form dies im Text geschildert werden sollte, bleibt ungewiss, weil
Remarque den Text nur bis zu den ersten zeilen von
Kapitel XXI fertigestellt hatte, als er am 25.
September 1970 in Locarno starb.
»Weil die Erinnerung ein
romantischer Fälscher ist«, sagte ich. »Ein Sieb, das das Grauen durchläßt und vergißt und ein
Abenteuer daraus macht. Jeder ist in der Erinnerung ein Held. Über den Krieg
könnten eigentlich nur die Toten aussagen; sie haben ihn ganz mitgemacht. Aber
sie müssen schweigen.«
Ravic
schüttelte den Kopf. >Der eine fühlt die Schmerzen des anderen nicht«, sagte
er. »Das ist es. Seinen Tod auch nicht. Nach kurzer Zeit weiß er nur noch, daß er selbst davongekommen ist. Es ist unsere verdammte
Haut, die uns separiert und uns zu egoistischen Inseln macht. Ihr habt es in
den Lagern erlebt; der Schmerz um die Toten verhinderte nicht, das Stück Brot
hinunterzuschlingen, das man erwischt hatte.« Er hob
sein Glas. »Könnten wir sonst diesen Cognac trinken, während der fette Ansager
dort von Menschenverlusten faselt, als wären es Schweinskarbonaden?«
Die ersten Konzeptionen zu einem Text, der sich thematisch mit – grob
umrissen – New York und der dortigen Emigrantenszene beschäftigt, haben
ausschließlich biographische Ursachen. Sie gehen zurück auf die Therapie
Remarques durch die Psychoanalytikerin Karen Horney seit Mitte 1950. Der unmittelbare
Anlass der psychischen Krise Remarques lag in der Trennung von Natasha
Paley-Wilson begründet – nach zehn Jahren einer zwar von Schwierigkeiten,
wechselnden Liebesverhältnissen und Krisen geprägten, dennoch aber dauerhaften.
Karen Horney riet Remarque, diesen Teil seiner psychischen Probleme durch eine
Niederschrift und Beschreibung der Beziehung zu bewältigen, die im Laufe des
Jahres 1950 zu einem Projekt des Autors mit dem Titel Das Buch N. führten. Ob Remarque zu diesem Zeitpunkt bereits an
einen Roman oder lediglich einen autobiographisch gefärbten kürzeren Text
dachte, muss ungeklärt bleiben, da sich im New Yorker Nachlass des Autors
lediglich einige Tagebuchnotizen und Notizzettel erhalten haben, die
zweifelsfrei auf den Zeitraum bis 1952 zu datieren sind.
Aufgrund fehlender Dokumente muss auch ungeklärt
bleiben, wann Remarque Das Buch N. zu
einem Roman mit der Hauptfigur Natascha Petrowna
erweiterte, den autobiographischen Bezug zumindest anklingen ließ und zugleich
die Beschreibung des Emigrantenschicksals in den USA hinzufügte. Titel dieses
Romanprojektes, das Remarque definitiv 1967 abgeschlossen hatte, war jedoch
nicht Schatten im Paradies, sondern New
York Intermezzo.
Remarque verwarf ab Februar 1968 die bereits vorliegende, möglicherweise
abgeschlossene Fassung des Romans New
York Intermezzo, tilgte auch die nur für Eingeweihte erkenntlichen
autobiographischen Bezüge, indem er die weibliche Protagonistin nun zunächst Luciana
Coleman, dann Maria Fiola taufte (und damit zu dem
Grafen und Beifahrer des Protagonisten Kai aus Station am Horizont, Fiola, namentlich zurückkehrte), legte den Schwerpunkt des
Textes auch auf eine Diskussion der Vergänglichkeit und des Todes und
konzipierte spätestens seit September 1968 (kenntlich an der Niederschrift der
Notizen auf einem gestempelten Briefumschlag) ein tragisches Ende für den
Protagonisten Ludwig Sommer.
Die für Remarque ungewöhnliche Arbeitsweise an der
Neufassung, die Das gelobte Land
betitelt wurde, weist auf eine große Zeitnot des Autors hin. Beendete Remarque
bei allen seinen vorhergehenden Romanen zunächst eine Fassung, ehe er sie
korrigierte, so arbeitete er bei Das
gelobte Land parallel an Teilen des Textes mit jeweils sehr
unterschiedlichem Bearbeitungsstand.
Das Ende des Romans hatte Remarque nur in Notizen skizziert: die Rückkehr
des Emigranten Sommer nach Deutschland, die Rache an dem Mörder seines Vaters,
die ihn als Verpflichtung am Leben gehalten hatte und an der er – wie die
Notizen zeigen – scheitern sollte.
Das Motiv des Scheiterns, der vergeblichen
Hoffnungen der Emigranten auf eine Rückkehr, ihr Zwischen-den-Kulturen-stehen
und ihre Haltung des nicht Wahrhaben-wollens, dass mit der Emigration ein
endgültiger Bruch mit der Vergangenheit und der früheren Heimat verbunden ist,
stehen im Mittelpunkt des Romans, aus dem es keine Rückkehr gibt und das von
einer Hoffnung zu einer Falle geworden ist, aus der nur der Tod befreit.
Mehr noch, Das
gelobte Land erscheint voller Bezüge zu Remarques vorigem Werk und seinen
Inhalten, als abschließendes, endgültiges Vermächtnis gedacht. Dies wird nicht
nur daran deutlich, dass Ravic aus Arc de Triomphe (und darüber hinaus als Remarques fast gesamtes
schriftstellerisches und privates Schreiben durchziehende Figur seit dem Roman Gam und in der Korrespondenz mit Marlene Dietrich) in
New York auftritt, sondern auch in dem fast wörtlichen Zitat früherer
Positionen des Autors, die hier revidiert werden.
Der Protagonist Sommer ist in Das
gelobte Land wohl nicht das Sprachrohr des Autors, sondern die Figur, an
der Remarque frühere Positionen abarbeitet und neue entwirft. Der Glaube an die
Möglichkeit der Rache und damit der Wiedergutmachung hält Sommer am Leben;
einer Rache, die Ravic in Arc de Triomphe an dem Nazi Haake bereits vollzogen hatte und auch
noch vollziehen konnte, ohne etwas ändern oder bewirken zu können.
Die Kontrastierung der Emigrantenschicksale mit der
Kunst, die sowohl im Kunsthandel eines Reginald Black profaniert wird, zugleich
aber auch die Möglichkeit zur kontemplativen Versenkung bietet, ist ein
weiteres Beispiel für die Überwindung und Neuformulierung früherer Positionen
des Autors. Wieder gibt Arc de Triomphe und zum Teil auch Liebe Deinen Nächsten die Folie ab: Dort diente der Besuch des Louvre und
speziell die Betrachtung der Nike von Samothrake noch
zur Festigung der eigenen Position in der Verfolgung, zum Nachweis der Kultur
und des Menschseins des Emigranten; und auch für Ludwig Sommer erfüllte das
Brüsseler Museum, das Abtasten der chinesischen Bronzen im Dunkel des Verstecks
die Funktion der Vergewisserung der eigenen Existenz. In Figuren wie Durant II
demonstriert der Autor dagegen die kontemplative Funktion der Kunst angesichts
des historischen Mordens und der individuellen Vergänglichkeit: die Kunst als
zwecklose Bewahrerin der Schönheit inmitten einer resignativ gewerteten Welt,
deren zivilisatorische Werte in den Gräueln des Zweiten Weltkriegs
untergegangen waren, widersprüchlich und grotesk geworden sind und nicht
wiedergewonnen werden können.
Zweifellos ist der Fragment
gebliebene Roman Das gelobte Land ein
Vermächtnis. Mit allen Längen, motivischen Wiederholungen und dem Charakter
eines ‘unfertigen’ Textes und auch mit der Ungewissheit, wie die Handlung des
Romans sich in den noch folgenden, nicht mehr niedergeschriebenen Kapiteln
entwickeln sollte, ist Das gelobte Land ein
Kommentar seines Lebenswerkes angesichts des nahen, sicheren und bewusst
gesehenen eigenen Todes.
Das
gelobte Land erschien erstmals
1998 anlässlich des 100. Geburtstages des Autors. Übersetzungen in alle
wichtigen Weltsprachen folgten; zuletzt in den 2010er Jahren ins Französische
und Englische.
Marc Wilhelm Küster. »Die Manuskriptlage zu
Remarques Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 5 (1995), 88–108.
Tilman Westphalen. »Nachwort. ›Alles war
falsch. Ich muß noch einmal anfangen ... Und wir sind
schon so müde‹«. Erich Maria Remarque. Schatten
im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995 (KiWi 389),
495–512.
T[homas F.]S[chneider]. »Erläuterungen«. Erich Maria Remarque. Das unbekannte Werk.
Frühe Prosa. Werke aus dem Nachlaß. Briefe und
Tagebücher. Herausgegeben von Tilman Westphalen und Thomas F.
Schneider. Vol. 2: Das gelobte Land. Roman. Köln: Kiepenheuer &
Witsch, 1998, 433–442.
Tilman Westphalen. »Ein Tornister voll mit
Blei«. Erich Maria Remarque. Schatten
im Paradies. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 481),
495–514.
Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006,
129–158.
Katharina Schulenberg.
»Perspektive Amerika? Vergangenheitsbewältigung vs. Zukunftspläne in den posthum
veröffentlichten Romanen Das gelobte Land
und Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 16 (2006), 34–89.
Tilman Westphalen. »Illusion der Emigranten:
Vergessen und neu anfangen. Nachwort«. Erich Maria. Das gelobte
Land. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman
Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010 (KiWi 1189), 423–446.
Thomas F. Schneider. »›Nicht der Mörder, der
Ermordete war schuldig‹. Zu Erich Maria Remarques nachgelassenem Roman«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies (New York Intermezzo). Roman. In der
Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F.
Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi
1634), 687–711.