Die junge Protagonistin Gam wird auf ihrem
Weg durch vier Kontinente (Afrika, Asien, Südamerika, Europa) mit verschiedenen
Männertypen konfrontiert, die jeweils unterschiedliche Lebensphilosophien
repräsentieren, wobei die Figuren Clerfayt, Kinsley und Lavalette im Mittelpunkt stehen. Eine Notiz aus
dem Nachlass des Autors verdeutlicht die einzelnen Positionen:
Personen
Clerfayt
gesammelte Energie, Jugendkonsequenz, Härte, im Elan unwiderstehlich
Kreole Dekadenz
Purischkoff Schwärmer
Kinsley Menschentum und Wissen um die
Zusammenhänge
Séjour Kontemplativer Ästhetiker
Lavalette Kugelmensch
Fred Durchschnittstyp
Arzt zwiespältig
Scrymour sehr geschlossen
Bucklige Aus Physiologie heraus
Henker
Dieses philosophisch gedachte Konstrukt der
Konfrontation der – übrigens im Romanwerk Remarques einzigen – weiblichen
Protagonistin mit diversen Männer-Typen und ihre Selbstfindung am Ende des
Romans realisiert Autor vor dem Hintergrund exotischer Welten und Philosophien
und siedelt die Handlung vorwiegend – mit Ausnahme der Fred-Episode im
Milieu der Reichen, Schönen und Distinguierten an. Die Charaktere sind das
Produkt ihrer exotischen, vom Autor in zahlreichen Details ausgearbeiteten
Lebensräume, und Gam als die schwankende Frau, findet erst im endgültigen
Verlust des Geliebten, Lavalette, in der Zurückgezogenheit zu sich selbst. Ein
Kreis hat sich am Ende des Romans mit dem Wiederfinden des erotischen Divans
des Abu Nowas geschlossen; ein Kreis, der – als
Paradox gedacht – zugleich ein Anfang ist. Gam ist sich nunmehr nicht nur ihrer
Existenz, sondern auch ihrer Selbst bewusst und erreicht schließlich damit die
Einheit von Mensch und Natur, die in den frühen Gedichten Remarques so vehement
beschworen wird.
Die Narzissenwiesen
lagen im gleitenden Licht. Schlank standen die Gräser wie eine Sperrwache unter
den blassen Blumenkehlen. Falter hingen trunken in den Blüten; Käfer kletterten
behende an den Schäften entlang. Goldene und grüne
Flügeldecken schoben sich durch die Stengel. Bienen
summten wie versunkene Orgeln.
Gam
war im Schreiten sich ihres Körpers bewußt. Sie
fühlte die Füße, die den Boden faßten, die Zehen, die
aufsetzten, und die elastisch sich abrollende Krümmung der Sohle. In den Knien federten
die Gelenke im Takte des Ganges. Die Hüften trugen den Rücken und schwangen im
gleichen Rhythmus wie die Schultern. Welch eine Gnade war es, den Kopf heben zu
können, ihn zurücklegen zu können - und das Gleitende über das Gesicht zu
fühlen.
»Das
Leben ist alles«, ging Gam: sie dachte es nicht, sie ging es – »Leben ist
alles« – Ich empfinde – göttlichstes Gefühl – die Welt ist jung wie ich –
Solange ich mich empfinde, steht die Welt – „Solange ich mich lebe, lebe ich
Alle –«
Der
Wald stand hinter den Wiesen. Eichen waren schwer – und hoch über die andern
Bäume gewachsen. Darunter drängten sich junge Bäume. Unterholz – und Gesträuch
wucherte – um ihren Fuß. Dazwischen lagen gestürzte Stämme. Auf ihnen aber
lebten schon Pilze und Schlingpflanzen. Der Wald wuchs - und wuchs, stark,
lebendig, immerfort. Er wuchs – und wuchs –
Gam
roch den Duft der Erde – und der Kräuter. Sie brach Rinde und schmeckte sie.
Wind kam auf. Ein neues Jahr brach aus der Scholle. Alles war Beginnen. Gam wußte nun alles. Sie neigte das Haupt. –
Sprach nicht jemand neben ihr: »Ich beginne – ich bin
bereit –« (Epilog)
Der bis 1998 unpubliziert
gebliebene Roman Gam entstand vermutlich im Zeitraum Frühjahr/Sommer
1923 bis Frühjahr/Sommer 1924. Direkte Zeugnisse oder Aussagen des Autors zur
Entstehung oder zum Text überhaupt liegen bislang nicht vor. Die Datierung
stützt sich auf den in im New Yorker Nachlass Remarques verwahrten Manuskripten
und Entwürfen zu dem Text.
Einen weiteren Hinweis auf den Entstehungszeitraum des Romans Gam gibt
die Publikation einer mit einer Passage des Romans nahezu wortgetreuen
Kurzgeschichte unter dem Titel Steppengewitter in der Zeitschrift Jugend
(München) vom Juli 1924. Diese Kurzgeschichte ist – mit Ausnahme der Namen und der
Exposition – weitgehend identisch mit dem in Kapitel III, Abschnitt 4
geschilderten Gewitter. Entweder stellt die Kurzgeschichte einen Auszug aus dem
Roman dar, oder Remarque hat diese in der Kurzgeschichte geschilderte Episode
zu einem späteren Zeitpunkt in den Roman integriert.
Im Frühjahr 1942, der Zeit des curfew-Hausarrestes in
Los Angeles, ließ Remarque laut Tagebuch das »alte Manuskript« abschreiben und
korrigierte es teilweise zu der 1998 abgedruckten Fassung.
Der frühe Roman Gam ist, nach dem stark autobiographisch gefärbten Die Traumbude, ein
Thesenroman, ein Versuch des Autors, philosophische Überlegungen in eine
Romanhandlung zu betten und ihnen mit Exotik die Starre zu nehmen, die diese
Aneinanderreihung von Positionen sonst mit sich bringen würde.
Die Bedeutung des Romans Gam ist trotz der Tatsache, dass er zu
Lebzeiten des Autors nicht nur unpubliziert, sondern
auch, soweit bekannt, öffentlich unerwähnt blieb, kaum zu unterschätzen. Die
Bedeutung für den Autor geht allein schon aus dem Umstand hervor, dass Remarque
das vermutlich 1942 entstandene Typoskript bis zu seinem Tode in einer Mappe
aufbewahrte, die die Aufschrift »1. Roman« trägt, obwohl es Remarque zuvor
schon gelungen war, mit Die Traumbude einen Roman zu veröffentlichen.
Anders gedeutet: mit Gam beginnt die eigentliche Phase des
Romanschriftstellers Erich Maria Remarque. Und, zieht man die zur
Entstehungszeit des Romans vor allem in der Zeitschrift Jugend
veröffentlichten, in der Thematik verwandten Erzählungen hinzu, beginnt 1924
die Existenz des Schriftstellers Remarque.
Auffällig ist darüber hinaus, dass Remarque die in Gam verwendeten
Figurennamen bis hin zu seinem letzten Roman, Das gelobte Land,
wiederverwendete. In Gam entwickelte der Autor das
Personennameninstrumentarium, mit dem er in zahlreichen seiner späteren Werke
arbeiten sollte. Psychologisch interessant mag es vielleicht zusätzlich sein,
dass Remarque Mitte der 1920er Jahre Texte unter dem Pseudonym Lavalette
publizierte und eine der beiden Figuren, unter denen er mit Marlene Dietrich
korrespondierte, den Namen Ravic trug – vor der
Publikation von Arc de Triomphe, mit dem der Name in die
Literaturgeschichte einging: Ravic, der
schwärmerische Liebhaber. In diesem Briefwechsel mit Marlene Dietrich findet
sich schließlich auch der einzige kommentierende Hinweis auf Gam: in
einem der über 300 Briefe verweist Remarque ironisierend auf die Figur Gam,
wodurch zumindest ein Leser des Romans zu Lebzeiten des Autors identifiziert
wäre: Marlene Dietrich.
Ob und wann Remarque Anstrengungen unternommen hat, den Roman zu publizieren,
und an welchen Umständen ein solcher Versuch letztlich scheiterte, ist völlig
ungeklärt. Zahlreiche der thematischen, motivischen und philosophischen
Leitmotive, die Remarques Werk durchziehen, haben in Gam jedoch zweifellos
ihren Ausgangspunkt. Und nicht nur aufgrund der Namensgleichheit in Clerfayt kann Der Himmel kennt keine Günstlinge
(1961) bzw. dessen Vorabdruckfassung Geborgtes Leben (1959) als
Weiterentwicklung von Gam gewertet werden. Ende der 50er Jahre, nach der
explizit politischen Phase in seinem Schaffen mit den Romanen Der Funke Leben
(1952), Zeit zu leben und
Zeit zu sterben (1954) und Der schwarze Obelisk (1956), dem Schauspiel Die letzte Station
(1956) und dem Drehbuch zu dem Film Der letzte Akt (1955), war Remarque
zu den schriftstellerischen Anfängen, zum »1. Roman« zurückgekehrt.
Brian Murdoch. The Novels
of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006, 1–30.
Thomas F. Schneider. »Denn das Wichtige liegt
immer nur in und selbst. Erich Maria Remarques zweiter Roman Gam«. Erich
Maria Remarque. Gam. Roman. In der Originalfassung
mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln:
Kiepenheuer & Witsch, 2020 (KiWi 1741), 318–338.